© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Die wilde Jagd nach der ersten Nacht
Literaturbetrieb: Immer häufiger werden Bücher weit vor ihrem Erscheinen rezensiert / Kritiker wollen Duftmarken setzen
Richard Stoltz

Die diesjährige Buchmesse bringt es wieder mal grell an den Tag. Alle auffälligen Titel, die erst kurz vor Messebeginn auf das Käuferpublikum losgelassen wurden, sind in den großen Zeitungen längst rezensiert, ausführlich bekakelt und schon wieder redaktionell abgelegt. Man hält sich dort nicht einmal mehr an die sogenannten Sperrfristen, die von den Verlagen erbeten werden, wenn sie die Druckfahnen zur Vorlektüre abschicken. Schnelligkeit bei Kritikersprüchen ist einziger Trumpf.

Eine wilde Jagd nach der "ersten Nacht" ist unter den Literaturkritikern ausgebrochen, man könnte auch sagen: nach dem Blattschuß auf das jeweilige Buch. Oder ein anderes Bild bietet sich an: Jeder Kritiker will gewissermaßen als erster seine Duftmarke absetzen, an der dann die anderen riechen müssen. Nicht um das Buch geht es im Grunde, sondern um das, was dieser oder jener dazu sagt. Wer zuerst kommt, "bestimmt den Diskurs".

Für die Buchautoren ist das ziemlich verheerend. Sie sehen sich an den Rand des Geschehens gedrängt, müssen sich als bloße Zulieferer für die Verfertiger von "Übertexten" fühlen, welche oft allen Ernstes als die "eigentlichen" Texte ausgegeben werden. Nicht mehr der Urtext sorgt für eventuellen allgemeinen Beifall und für Verkaufserfolg (oder Mißerfolg), sondern das, was der Übertexter zum Urtext zu verlautbaren hat.

Oft (siehe die seinerzeitigen Vorgänge um den Walser-Roman "Tod eines Kritikers" oder den schrillen Vorauslärm um das aktuelle "Häuten der Zwiebel" von Günter Grass) entwickelt sich bereits vor Erscheinen der Bücher ein veritabler Kritiker- und Expertenstreit, an dem dann das Publikum leidenschaftlich Anteil nimmt, obwohl es keine einzige Zeile des fraglichen Buches gelesen hat - gar nicht gelesen haben kann. Ist das Opus schließlich auf dem Markt erhältlich, verschwindet es auch schon wieder im Archiv, wo es alsbald "der nagenden Kritik der Mäuse" verfällt. Manchem Autor ist das übrigens gar nicht so unrecht. Er sagt: "Lieber Mäuse als Kritikerratten."


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