© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Charmante Amateure
Berlin: Mit ihrem Wahlerfolg hat sich die Rentnerpartei "Die Grauen" nicht nur den Traum vom eigenen Balken in der Wahlgrafik erfüllt
Victor Gaché

Amateure in der Politik bringen einen gewissen Charme mit. Dagmar Schipanski oder Paul Kirchhof waren als Semi-Amateure sympathische Figuren, denen viele bürgerliche Wähler mehr Erfolg gegönnt hätten. Das galt anfangs auch für Ronald B. Schill.

Aber es geht noch laienhafter. Viel laienhafter. In Berlin ist eine Partei mit einem Wahlkampfbudget von nur 20.000 Euro in acht kommunale Rathäuser eingezogen. Die "Grauen" hatten keine Werbeagentur, keine bezahlten Wahlkampfhelfer und eine furchtbar gestaltete 64seitige (!) Wahlkampfzeitung. Hier ist ihre Geschichte: Es ist Sonnabend nachmittag, die Sonne scheint. Norbert Raeder sitzt vor seiner Gaststätte "Kastanienwäldchen" in der Residenzstraße und empfängt Zufallsgäste. Als Gastgeber ist er ein Profi, spendiert freundlich eine Cola. Raeder weiß, wie man mit "der Presse" umgehen muß.

Angefangen hat alles kurz nach der Wende. Raeder war Manager im "Joe am Wedding" und organisierte den Senioren-Tanztee. Wahrscheinlich trug er auch damals schon seine Vokuhila-Oliba-Frisur (Vorne kurz, hinten lang, Oberlippenbart). "Da kamen acht bis dreizehn Graue Panther", berichtet er. Mit denen hat er sich unterhalten. "Da habe ich mich immer mehr für Ältere interessiert." Raeder, damals 24 Jahre alt, beschließt Politiker zu werden und wird Mitglied der Rentnerpartei.

Eigentlich hätte er schon viel früher den Erfolg verdient, findet der Landesvorsitzende der Grauen. Immer kam etwas dazwischen wie der 11. September oder die Oderflut. "Wir sind nie dort rangekommen, wo wir gedacht hatten ranzukommen." 2006 hat es endlich geklappt. Die Grauen wurden stärkste Partei nach der FDP und erreichten 3,8 Prozent. Das ist nicht genug fürs Abgeordnetenhaus, aber für acht Rathäuser. Im Bezirk Reinickendorf, Raeders Heimatbasis, liegen die Grauen bei sieben Prozent, in seinem Wahlkreis bei mehr als elf. Ohne sie geht nichts in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV).

"Poppen für 'ne sichere Rente?" fragten die Wahlplakate der Partei im Wahlkampf. Es war Raeders Lieblingsslogan. Auch die Anhängerschaft fand den Spruch wohl originell. Frage: Wie soll denn nun das Rentenproblem wirklich gelöst werden? Welche Lösungen haben die Grauen parat? Die Probleme der Alten lösen wir über die Jungen, sagt Raeder ganz pragmatisch. Er glaubt daran.

Als Beispiel nennt er den Franz-Neumann-Platz. Der liegt an der Grenze zum Wedding. Ein paar hundert Meter weiter ist die Soldiner Straße. Und das heißt Drogen, Kriminalität, Überfremdung. Slum würde Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sagen. Der Residenzstraßenkiez, in dem Raeder seine Kneipe betreibt, ist eine Art Frontbezirk. Am Franz-Neumann-Platz gibt es eine Ärztin, die Drogensüchtigen Methadon verabreicht. Kein Wunder, daß sich hier Gestalten herumtreiben, denen Senioren nachts lieber nicht begegnen wollen. Rae-ders Lösung: Wenn die Jungen alle einen Arbeitsplatz haben, dann hängen sie nicht mehr hier herum. Und schon trauen sich die Alten auch nach Einbruch der Dunkelheit wieder auf die Straße. So sind die Probleme der Alten und der Jungen gelöst. Raeder verharrt nicht auf dieser abstrakten Ebene. Er tut was. Jugendlichen, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben wollen, schenkt er das Porto. "Überlegen Sie mal, was da bei 100 Bewerbungen, die man heute braucht, so zusammenkommt. Das sind schnell 500 Euro, die die gar nicht haben."

Ein anderes Mal hat er die Schulbehörde auf Trab gebracht. Es gab zum wiederholten Male Unterrichtsausfall an einer Schule nebenan. Also verlegte der gelernte Pharmazeut den Unterricht in seine Kneipe und lud die Presse dazu ein. "Was glauben Sie, wie schnell an der Schule wieder genug Lehrer da waren? Am nächsten Tag!"Die Alten hat der 38jährige nicht aus den Augen verloren. Er hilft Demenzkranken, demonstriert für Heiminsassen, kämpft für den Erhalt sozialer Dienste. "Du mußt einfach aufpassen als Junger, damit du nachher nicht selbst so endest", ist sein Credo.

Zusammen mit Raeder am Tisch sitzt Dirk Noelte. Noelte trägt ein schwarzes T-Hemd der Grauen, einen Vollbart und ein Goldkettchen. Beide freuen sich, daß der gute Wille endlich mal ausgereicht hat, daß endlich der langersehnte Erfolg da ist. "Endlich hatten wir am Wahlabend einen eigenen Balken", sagt Noelte. Jahrelang gehörte man immer zu den Sonstigen, erfuhr erst später aus der Presse, wie gut beziehungsweise schlecht die eigene Partei abgeschnitten hat. Und kaum, daß der eigene Balken da ist, sind Noel-te, Raeder und alle anderen Grauen bereits mittendrin im Machtpoker, mit dem sie eigentlich gar nichts zu tun haben wollen.

Als nichtsozialistische Protestpartei sind die Grauen eher ein Partner von Union und FDP, aber sie wildern in deren Revier, deswegen ist die gegenseitige Skepsis groß. Bei der CDU liegen die Nerven blank. Vor der Wahl diffamierte ein mißmutiger Christdemokrat das Waldschlößchen als "Sammelpunkt hoffnungsloser Gestalten." Das unter CDU-Kontrolle stehende Bezirksamt macht Raeder das Leben schwer. 127 Kontrollen hatte der Gastwirt alleine im letzten Jahr. Weil Metaxa als Spirituose (und nicht als Weinbrand) aufgeführt war, mußte er über 2.000 Euro Strafe zahlen. Mit Razzien und verdeckten Ermittlern versucht die Staatsmacht den Arbeitgeber von 21 Mitarbeitern einzuschüchtern. Vergeblich.

Raeders Kollege Noelte ist Bezirksverordneter in Spandau. Lang und breit erklärt er, warum er dort für den Bürgermeister von CDU und FDP stimmt. Raeder dagegen will sich nach seinen Erfahrungen mit der CDU mit seinen vier Reinickendorfer Mandatsträgern bei der Bürgermeisterwahl enthalten. Er sagt, er werde solche Anträge, die er befürwortet, unterstützen. Egal, von wem sie kommen. Nur mit der Linkspartei lehnt er eine Zusammenarbeit ab - aber nur im Westen. Im Osten gehöre die Partei dagegen dazu. "Die Mauer ist ja noch da", findet Raeder. Und mit "den Rechten" ist natürlich jegliche Zusammenarbeit ausgeschlossen, fügt Noelte hinzu. Natürlich.

Während des Gesprächs kommen immer wieder Freunde vorbei, die Raeder begrüßen, Passanten, die ihm gratulieren. Das "Kastanienwäldchen" (Eigenwerbung: "die Kneipe mit Pfiff") ist das soziale Zentrum der Bewegung. Man kennt sich, spricht über das Straßenfest am kommenden Wochenende, das Raeder - so ganz nebenbei - auch noch organisiert hat. Ein jüngerer Bekannter von Raeder gibt sich als CDU-Mitglied zu erkennen, scheint mit der eigenen Partei aber nicht viel am Hut zu haben. Er ist überschwenglich wegen des Erfolgs von Raeder und Co. "Das hörte ja gar nicht auf an dem Wahlabend", strahlt er. "In meinem Ortsverband diskutieren sie nur über 'Poppen für die Rente'", berichtet der abtrünnige Christdemokrat. "Die regen sich auf, aber so ist es doch." Da sage noch jemand, die Erkenntnis über Deutschlands demographische Misere sei noch nicht beim Volk, bei der Basis angelangt.

Raeder stellt zufrieden fest: "Wir hatten acht oder neun Beschwerden wegen 'Poppen für die Rente' bekommen. Aber Hunderte sind gekommen, um sich ein Plakat abzuholen." "Poppen für die Rente" ist Kult und hängt jetzt wahrscheinlich in vielen Hobbykellern, Arbeitszimmern, vielleicht sogar in der guten Stube.

Foto: Norbert Raeder (l.) vor seiner Kneipe, Dirk Noelte: Machtpoker


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