© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Ein Gottesnarr weint!
Zum Hundertsten: Schostakowitschs Musik spricht von der kollektiven Tragödie seines Volkes
Jens Knorr

"Fließet, fließet, bitterliche Tränen, weine, weine, rechtgläubige Seele. Denn der Feind kommt bald und das Dunkel kommt, dunkle Dunkelheit undurchsichtige. Wehe, Russisches Reich, wein, wein, russisch Volk, du hungernd Volk!"

Mussorgski "Boris Godunow"

Es gibt in der russischen religiösen Tradition den Jurodiwyi, den "Gottesnarren", der die Wahrheit sagt und doch relativ unantastbar bleibt, weil der Verrückte und nur er die verrückte Welt benennen darf. Uns ist er als Dostojewskis Fürst Myschkin oder aus Mussorgskis Oper nach Puschkins Drama "Boris Godunow" geläufig. Dmitri Schostakowitsch hat sie 1939 im Auftrag des Bolschoi-Theaters neuinstrumentiert.

Aus dem Narren spricht Gott. Der Gottesnarr lebt gefährlich und geschützt; würde er beseitigt, suchte sich Gott eine andere Stimme oder verstummte. Der Gottesnarr ist gehaßt, aber unersetzbar. Der Gottesnarr sagt, daß er eine Symphonie zu Ehren Lenins oder die Musik zu einem Karl-Marx-Film schriebe. Er zieht seine 4. Symphonie aus Furcht vor Repressalien zurück, erklärt sie für unfertig und läßt sie ein Vierteljahrhundert später uraufführen, ohne eine einzige Note zu ändern. Er übt öffentlich Selbstkritik, die "Prorabotka", er unterschreibt und trägt auf Kongressen Verlautbarungen vor, die andere gegen ihn verfaßten. Er ernährt seine Familie von dem Lohn für patriotische Filmmusiken und erhält Lenin-Preis auf Stalin-Preis. Er hält seine satirische Kantate "Antiformalistischer Rajok" zeitlebens unter Verschluß. Er schläft tagelang, wochenlang in Anzug, Mantel und Schuhen, den gepackten Notkoffer unter dem Bett, denn die Geheimpolizei kommt immer frühmorgens. Er überlebt.

Als sich der leidenschaftliche Theatergänger Josef W. Stalin am 26. Januar 1936 anläßlich eines Gastspiels des Leningrader Maly Theaters in Moskau die neue Oper "Lady Macbeth des Mzensker Landkreises" zu Gemüte führte, da hielt er es nur bis zur Pause aus.

Dmitri Schostakowitschs erste Oper "Die Nase" - die "Handgranate eines Anarchisten" (Teodor Griz) - hatte es auf immerhin 16 Repertoirevorstellungen, seine zweite Oper innerhalb zweier Jahre auf 94 Aufführungen in Moskau und 80 in Leningrad gebracht und ihren Siegeszug über die Opernbühnen von Cleveland, New York, Philadelphia, Stockholm angetreten.

Der Komponist galt seit der Uraufführung seiner 1. Symphonie, 1926 in der Leningrader Philharmonie, als eine internationale Berühmtheit, die virtuose Diplomarbeit des neunzehnjährigen Absolventen des Leningrader Konservatoriums als ein Welterfolg und ein Triumph anarchistischer Kreativität über akademischen Muff. Bruno Walter und Toscanini hatten sie im Repertoire.

Stalin hielt "Lady Macbeth" nur bis zur Pause aus

Doch die Zeit der großen sowjetischen Gesellschafts- und Kunstexperimente, die Werke wie die 2., 3. und 4. Symphonie hervorgebracht hatte, Ballette wie "Der Bolzen" "Das goldene Zeitalter" oder "Der helle Bach", Opern wie "Die Nase" und eben jetzt "Lady Macbeth", war vorbei. Die Mörderin ging dem Mörder wohl zu nahe. Zwei Tage nach Stalins Opernbesuch, am 28. Februar, erschien in der Prawda jener berüchtigte redaktionelle Artikel "Chaos statt Musik", der Schostakowitschs Oper einer vernichtenden "Kritik" unterzog, am 6. Februar ein zweiter Artikel "Verfälschtes Ballett" gegen "Der helle Bach", es folgten die obligatorischen "Diskussionen" der Leningrader und Moskauer Sektionen des Komponistenverbandes.

Die Ereignisse des Jahres 1936 markieren einen folgenschweren Bruch nicht nur im kulturellen Leben der Sowjetunion, sondern auch in Leben und Schaffen Dmitri Schostakowitschs. Musik hatte von nun an in der Sprache des "Sozialistischen Realismus" zu reden, dessen Grammatik übrigens nie genauer begründet worden ist. Musik hatte nicht kompliziert, sondern einfach, nicht intellektualistisch, sondern unmittelbar berührend, nicht dissonant, sondern "melodisch", nicht (jüdisch-) kosmopolitisch bzw. westlich-dekadent, sondern volksverbunden zu sein. Die Verbannung von Schostakowitschs Opern aus allen sowjetischen Opernhäusern und seiner Instrumentalwerke von den Konzertpodien verstand sich da von selbst.

Der Prawda-Artikel barg eine unverhohlene Drohung an den Komponisten: "Dies ist ein Spiel mit Überspanntheiten, das übel ausgehen kann." Warum der "Volksfeind" Schostakowitsch nicht den "Großen Säuberungen" zum Opfer fiel, warum er nicht das Schicksal Meyerholds, Marschall Tuchatschewskis und all der anderen Freunde teilen mußte, darüber gibt es nur Vermutungen. Vielleicht hat ihn ja wirklich der erst 1993 publizierte Brief Maxim Gorkis an Stalin gerettet. Gorki hatte den "lieben Jossif Wissarionowitsch" an den internationalen Ruf Schostakowitschs erinnert und den "sorgsamen Umgang mit Menschen" angemahnt, von dessen Notwendigkeit Stalin in seinen Reden und Artikeln gesprochen habe. Vielleicht hat Stalin in Schostakowitsch den gefürchteten Gottesnarren erkannt.

Fortan wird es Schostakowitsch, den ungebrochenen Gebrochenen, unter vielerlei Masken geben, den Komponisten der Symphonien und Streichquartette wie den von Massenliedern, Filmmusiken, musikalischen Poemen, den Gemaßregelten und die Funktionärsmarionette, den Christen und den Kommunisten. Fortan wird es für diesen Schostakowitsch Zuckerbrot und Peitsche geben. Die "Shdanowtschina" des Jahres 1948 und der staatlich organisierte Boykott gegen die 13. Symphonie "Babi Jar" Anfang der sechziger Jahre werden nach erprobtem Muster ablaufen. Und fortan wird Schostakowitschs Musik die Musik eines Überlebenden sein, geschrieben in Erwartung des Todes.

Der 21. November 1937, als Schostakowitschs 5. Symphonie uraufgeführt wurde, wiederum in der Leningrader Philharmonie, ist ein wichtiges Datum der Musikgeschichte. Die Fünfte gibt in der Tat "die sachliche, schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechtfertigte Kritik", aber in anderem Sinne, als die Rezensenten, und handelt in der Tat vom "Werden der Persönlichkeit", aber in anderem Sinne, als der Dichter Alexej Tolstoi vermeinte. Sie bedeutet keine Rücknahme, sondern kritische Fortsetzung und Aufhebung der Mahlerschen Symphonik, insbesondere all derjenigen ihrer Elemente, die im westeuropäischen Komponieren für längst erledigt galten. Doch auch Kompositionstechniken, die einmal überholt schienen, erhalten sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Die musikalische Prosa der Fünften erzählt Unerzählbares. Der Durchbruch ihres Finales ist gegen den ganzen bisherigen musikalischen Verlauf gesetzt, der einen Durchbruch gar nicht mehr zuläßt, herausgeprügelter "Parteitagsjubel" und Aufruf zum Widerstehen zugleich.

Von der ungeheuren Wirkung dieser "Gaskammer der Gedanken" - nach Wolkow die Worte eines sowjetischen Komponisten - auf ihre ersten Hörer haben wir übereinstimmende, glaubwürdige Berichte. "Würden wir nach dem Anhören dieser Symphonie verhaftet werden, allein nur deshalb, weil wir dieses Werk überhaupt gehört hatten?" erinnert sich der deutsche Dirigent Kurt Sanderling an die erste Aufführung in Moskau, etwa 14 Tage nach der Leningrader Uraufführung. Sanderling war übrigens nach dem Generalverbot von Schostakowitschs Musik der erste, der die Fünfte wieder dirigierte, 1949 in Moskau, "die Musik des Alleingelassenen in einer Welt voller Gewalten, der er nicht Herr werden kann". Auch Sanderling hat überlebt.

Hier sprechen die vielen Lebenden und vielen Toten

In Schostakowitschs Musik spricht kein einzelner zu einzelnen, hier sprechen die vielen Lebenden und die vielen Toten durch einen einzelnen: von der kollektiven Tragödie seines Volkes. Und die vielen Lebenden verstehen! Übrigens auch Schostakowitschs Gegner. In Konzertführern aus realsozialistischen Zeiten sind die intellektuellen Verrenkungen nachzulesen, die es brauchte, seine Musik den Dogmen des "Sozialistischen Realismus" irgend einzupassen. Schostakowitsch hat sich die vermeintlich traditionelle Musiksprache nicht von den Stalinisten des Musikgewerbes rauben lassen. Er hat sie sich mit jener seltenen Haltung anverwandelt, welche die Wahrheit der Kunst und die Wahrhaftigkeit des Künstlers, Kunst und Moral gleichgewichtet, das überlebenswichtige Gespür für "gute" und "schlechte" Menschen und das untrügliche Gespür für gute und schlechte Musik diesseits jeder musikalischen Materialdiskussion, die mit dem letzten Jahrhundert immer weiter ideologisiert und fetischisiert wurde und heute vollends zur Farce verkommen ist. Darum klingt seine Musik den Schmalspurkomponisten aller Arten so unangenehm im Ohr, und darum können sich weder allerneueste Einfältigkeiten noch dritte Darmstädter Schulen auf sie berufen. Sie bewahrt ihren Autonomiestatus, indem sie diesen aufgibt. Es gibt in der europäischen Musik des 20. Jahrhunderts wenig Vergleichbares.

Die gewollten Mißverständnisse im realsozialistischen Musikbetrieb fanden in den ungewollten des westlichen durchaus ihre Entsprechung. Auch die deutsche Musikwissenschaft links der Elbe, die Musikkritik sowieso, hat sich bis weit in die achtziger Jahre hinein in Sachen Schostakowitsch wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.

War es denn so schwierig zu recherchieren, daß der Gottesnarr das berühmte Thema und ganze Teile der 7. Symphonie, der Leningrader, bereits vor dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion fertig komponiert hatte, daß Lehárs "Die Lustige Witwe" eine Lieblingsoperette Stalins war und daß das Thema mit Variationen merkwürdig an "Dann geh ich zu Maxim" - so die rückübersetzte russische Übersetzung des Auftrittsliedes Danilos - erinnert? Der Name von Schostakowitschs 1938 geborenem Sohn, Maxim, war bekannt.

War es denn Zufall, daß der Gottesnarr in den zweiten Satz seiner 11. Symphonie "Das Jahr 1905" eine naturalistische Erschießungsszene hineinkomponierte, und das ein Jahr nach blutiger Niederschlagung der ungarischen Demokratie? Die 11. Symphonie, eine Symphonie mit zwei Programmen.

Und war denn nicht bekannt, daß ausgerechnet am Vorabend des deutsch-russischen Kriegs eine Aufführung der "Walküre" im Bolschoi-Theater auf direkten Befehl Stalins stattfand, ausgerechnet in der Inszenierung Sergej Eisensteins und ausgerechnet in der Zeit des Ribbentrop-Molotow-Pakts, als Stalin ein paar hundert deutsche Antifaschisten, jüdische Antifaschisten, die in der Sowjetunion Zuflucht gefunden zu haben glaubten, an Hitler auslieferte? Das Zitat der Wagnerschen "Todesverkündigung" ist ebensowenig nur private Anspielung wie das aus Rossinis Ouvertüre zu "Wilhelm Tell", die Trompetenfanfare aus Mahlers Fünfter und all die anderen Zitate, auch Selbstzitate in Schostakowitschs letzter, der 15. Symphonie.

Allein die Entschlüsselung solch ausgereifter Zitiertechnik und Semantisierung des musikalischen Materials hilft aus der schlechten Entgegensetzung von Linientreue und Dissidenz, äußeren und inneren Programmen, nicht heraus. Es gilt vielmehr, offizielle und geheime Programme ineinander zu setzen und miteinander zu konfrontieren. Den Gestus von Schostakowitschs Musik "verstünde, wer die musikalischen Strukturelemente zum Sprechen brächte, die aufblitzenden Intentionen des Ausdrucks aber technisch lokalisierte", wie es Adorno für Mahler gefordert und geleistet hat und für Schostakowitsch nicht leisten konnte und wollte. Es gilt, den Tragiker der Revolution, den grimmassierenden, clownesken, den gespenstischen, den opportunistischen und, ja, auch den zum Heulen kitschigen, es gilt, den ganzen Schostakowitsch zu entdecken.

Nach Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen und nach dem Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" wurden Vorwürfe laut, die Intellektuellen hätten zu den Verbrechen geschwiegen und immer nur geschwiegen. "Die Kunst ist der Zerstörer des Schweigens." Ein Gottesnarr im Zentrum des Terrors hat gesprochen.

Foto: Dmitri Schostakowitsch (um 1950): Die Musik eines Überlebenden, geschrieben in Erwartung des Todes

Festveranstaltung

Anläßlich des hundertsten Geburtstages von Dmitri Schostakowitsch lädt die Schostakowitsch-Gesellschaft am kommenden Wochenende (23./24. September) zu einer Festveranstaltung nach Rheinsberg ein. Am Samstag findet um 19 Uhr im Schloßtheater ein Preisträgerkonzert der Gewinner eines Internationalen Schostakowitsch-Wettbewerbs für junge Musiker statt. Den Festvortrag am Sonntag hält, ebenfalls im Schloßtheater um 17 Uhr, der in Krakau geborene und seit 1987 an der Musikhochschule in Köln lehrende Musikwissenschaftler und Komponist Krzysztof Meyer (63), anschließend folgt ein weiteres Konzert der Preisträger. Der Eintritt kostet 15 bzw. 12 Euro. Weitere Informationen: Schostakowitsch-Gesellschaft e.V., Klaustalerstr. 2, 13187 Berlin, Tel.: 030 / 47 53 75 70, Internet: www.schostakowitsch.de


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