© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Abbild deutscher Zustände
Lebensverhältnisse: Die Deutschen schätzen ihre Lage schlechter ein, als sie tatsächlich ist / Datenreport des Statistischen Bundesamtes
Peter Freitag

Das Statistische Bundesamt hat in der vergangenen Woche den "Datenreport 2006" herausgegeben und mit dieser "kleinen Volkszählung" ein Abbild der deutschen Zustände geliefert. In gut vierzig Kapiteln stellten die Wissenschaftler Zahlen und Fakten zusammen über die Situation von "Gesellschaft, Wirtschaft und Staat". Hinzugefügt ist eine Erhebung und Kommentierung der tatsächlichen wie der "gefühlten" Lebensbedingungen der Deutschen und ihrer Mitbewohner. Herausgekommen ist dabei, daß - verkürzt gesagt - die Lage von den Deutschen überwiegend noch schlechter eingeschätzt wird, als sie tatsächlich ist. Die Zufriedenheit mit den realen Lebensbedingungen ist vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern bei den Deutschen niedrig.

Gravierende Unterschiede in den Lebensbedingungen

Das, so die Herausgeber des Datenreports, liege vor allem daran, daß hierzulande die Maßstäbe höher angelegt würden. Bei der Arbeitsmarktsituation liegt die Bundesrepublik allerdings tatsächlich im europäischen Vergleich objektiv weiter hinten. Ende 2004 lebten in Deutschland 82,5 Millionen Einwohner, wobei in demselben Jahr die Zahl der Sterbefälle die der Geburten um 113.000 übertraf. Die sogenannte "Alterspyramide" ist keine Pyramide mehr, und was die demographischen Perspektiven angeht, fällt das nüchterne Votum der Wissenschaftler wie folgt aus: "Mit der im Jahr 2004 in Deutschland im rechnerischen Durchschnitt ermittelten Kinderzahl von 1,36 Kindern je Frau wird die zur Erhaltung der Bevölkerungszahl auf längere Sicht erforderliche Zahl von 2,1 Kindern je Frau deutlich unterschritten." Lediglich bei der Geschlechterverteilung scheint das natürliche Gleichgewicht in Deutschland noch zu funktionieren: Der leichte Überhang bei Geborenen männlichen Geschlechts wird dadurch ausgewogen, daß bei Männern ein "höheres Sterberisiko" besteht.

Obwohl die Deutschen durchschnittlich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten später heiraten und auch die Zahl der Scheidungen zunahm (etwa 115 Scheidungen auf 10.000 Ehen), ist die Ehe keineswegs ein "Auslaufmodell". Zwar sehen manche in den genannten Phänomenen und beispielsweise auch im Anstieg nichtehelicher Lebensformen einen Abschied von der "Familie im klassischen Sinne", den die Politik verschlafe, doch ist das nicht die ganze Wahrheit: Erstens nahm die Zahl der Eheschließungen 2004 (396.000) wieder leicht gegenüber dem Vorjahr zu, zweitens ist der politische Streit um die Verbesserung der "Familie im klassischen Sinne" im Hinblick auf das Wesentliche - Kinder - sehr wohl sinnvoll und notwendig.

Denn noch immer werden Kinder am häufigsten in dieser Familienform geboren, nur 28 Prozent außerhalb einer Ehe, was unter dem EU-Durchschnitt liegt. Nur in 26 Prozent der nichtehelichen Gemeinschaften leben Kinder, und die Mehrzahl der (allerdings zunehmenden) Alleinerziehenden war zuvor verheiratet, nur 22 Prozent waren zuvor nicht verheiratet; nur fünf Prozent nichteheliche Gemeinschaften haben gemeinsame Kinder oder bilden sogenannte "Patchwork-Familien". Noch immer hat das Ziel, eine "glückliche Ehe" zu führen, einen hohen Stellenwert in der Lebensvorstellung der Deutschen.

Erstaunlich wenig wird in vielen Presseberichten über diese aktuelle Erhebung auf das Kapitel "Zuwanderer und Ausländer in Deutschland" eingegangen. Offiziell leben 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland, hinzu kommen die (nicht bezifferten) Staatsangehörigen "mit Migrationshintergrund" und eine auf bis zu 1,5 Millionen geschätzte Zahl illegal hier lebender Personen.

Gegenüber 1991 hat sich die Zahl der Ausländer in Deutschland um rund 1,2 Millionen erhöht, ihr Anteil an der Bevölkerung stieg im gleichen Zeitraum von 7,6 auf 8,8 Prozent. 2004 wurden in Deutschland 36.000 Kinder mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit geboren, weitere 37.000 Kinder ausländischer Eltern besaßen (entsprechend dem seit Jahresbeginn 2000 geltenden Staatsangehörigkeitsrecht) die deutsche Staatsangehörigkeit, da ein Elternteil mindestens acht Jahre rechtmäßig hier lebte. 1999 waren es nach dem bis dahin geltenden Recht 95.000 ausländische Kinder, die in Deutschland zur Welt gekommen sind. Die Geburtenrate liegt bei (verheirateten) Ausländern durchschnittlich bei 2,03 Kindern, bei "ausländisch-ausländischen Lebensgemeinschaften" sogar bei 2,38 Kindern.

Die Lebensverhältnisse der hier lebenden Ausländer unterscheiden sich gravierend von denen der Deutschen. Im Durchschnitt verfügen sie über ein wesentlich geringeres Einkommen, niedrigere Schulbildung und weniger berufliche Qualifikationen. Die größte Ausländergruppe - die Türken - hat immer noch große Probleme in punkto Integration. 58 Prozent verfügen über keine Berufsausbildung, bei 54 Prozent sind die deutschen Sprach-, sogar bei nur 43 Prozent die Schreibkenntnisse gut.

Ausgeprägte Furcht vor Kriminalität

Der oft negierte Zusammenhang von "kultureller Nähe" des Herkunftslandes und Integration in die deutschen Verhältnisse ist jedoch zahlenmäßig belegbar. Denn Ausländer aus Südosteuropa, die selbst (oder deren Vorfahren) wie die Türken als Gastarbeiter hierher kamen, stehen besser dar, wenn auch noch mit großem Abstand zu den Deutschen. Die Aussiedler, die mit in der Rubrik "Zuwanderer" erfaßt wurden, sind zwar wirtschaftlich auch häufig schlechter gestellt, rangieren aber beispielsweise im Bereich der schulischen, beruflichen oder akademischen Ausbildung noch über dem deutschen Durchschnitt.

Die Furcht in Deutschland, Opfer von Kriminalität zu werden, ist leicht gesunken, die Zufriedenheit mit der Inneren Sicherheit gestiegen. Die Unterschiede zwischen "gefühlt" und "tatsächlich" sind hier besonders groß: So ist Furcht vor Kriminalität in Deutschland ausgeprägter als in anderen europäischen Ländern, gleichzeitig steht in der tatsächlichen Kriminalitätsbetroffenheit Deutschland besser da. "Die Opferrate für Einbruchs- und Überfallsdelikte ist hierzulande im Vergleich zu 17 europäischen Ländern mit am niedrigsten", so die Statistiker. Auch haben Frauen und ältere Menschen mehr Furcht vor Verbrechern, werden aber tatsächlich seltener Opfer derselben.


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