© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Die Lügen und der Zorn
Günter Zehm

In Budapest und anderen ungarischen Städten war in der Nacht zum Dienstag die Hölle los. Zehntausende von Menschen jeglicher politischer Couleur zogen zornerfüllt durch die Straßen, belagerten das Parlament, stürmten das Fernsehen und setzten es für anderthalb Stunden außer Betrieb. Autos brannten, Schaufenster gingen zu Bruch, es kam zu wilden Ringkämpfen mit der in Regimentsstärke angerückten Polizei, es gab viele Verletzte.

Was war geschehen? Nun, der heimliche Tonbandmitschnitt einer Kabinettssitzung des kürzlich neu gewählten sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany war an die Öffentlichkeit gelangt, auf dem höchst zynische Ausführungen des Regierungschefs zu hören waren. "Wir haben alles vergeigt und verdorben", sagte Gyurcsany, "wir haben die Wahl nur gewonnen, weil wir wie verrückt gelogen haben. Wir haben gelogen am Tag, am Abend und in der Nacht."

Den Beobachter im Westen erstaunt die Wut und die Gewalt der Budapester Demonstranten. Im Wahlkampf wurde gelogen? Das ist doch das Allernormalste im politischen Alltag. Das Lügen der Politiker gehört doch geradezu gesetzmäßig zum demokratischen Stil dazu. Jeder weiß das doch und stellt sich darauf ein.

Aber der Zorn der Ungarn, die der Demokratie lange entwöhnt waren, wirkt irgendwie sympathisch, trotz der Gewaltsamkeiten. Man ist das neuartige Lügenspiel noch nicht gewöhnt, und man will sich offenbar auch nicht daran gewöhnen. Gut so.


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