© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

Dilemma eines öffentlichen Kaisers
Martin Kohlrausch rückt anhand der Urteile seiner Zeitgenossen das Bild Kaiser Wilhelms II. in ein gerechteres Licht
Herbert Ammon

Er prägte der wilhelminischen Epoche den Namen auf, alle Geschichtsbücher schöpfen aus dem Repertoire des "Wilhelminismus": der Kaiser hoch zu Roß bei der Truppenparade, diplomatische Fauxpas ("Krüger-Telegramm" 1896, Daily Telegraph-Interview 1908), martialische Reden. Hoc volo, sic jubeo - eine Lesefrucht aus den Satiren Juvenals -, trug er 1901 in das Gästebuch der Stadt München ein. Mit der satirischen Drohung: "Der Kaiser ist los!" amüsierte der Simplizissimus schon 1910 sein bürgerlich-liberales Publikum.

Nach dem Fall des Reiches durch Niederlage und Revolution bedachte die Intelligenzija den im Exil zu Doorn vereinsamten Ex-Monarchen mit bissigen Nachrufen zu Lebzeiten, so der Theaterkritiker Alfred Kerr: "Was man klar an ihm erkannt / War der Mangel an Verstand. / Sonst besaß er alle Kräfte / Für die Leitung der Geschäfte." Für die Historikerzunft, nicht nur für die linksliberalen, scheint der Fall "Wilhelm II." seit der Biographie von John C. G. Röhl wissenschaftlich erledigt. Fazit: Die "persönliche Monarchie" - Röhls Abwandlung des "persönlichen Regiments - des letzten Deutschen Kaisers war schuld an allem Unheil.

Doch was wäre die Historie ohne das Salz des Revisionismus? Mit der vorliegenden Textsammlung nimmt der Herausgeber Martin Kohlrausch Korrekturen am historischen Erscheinungsbild Wilhelms II. vor. Die Abwertungen des Kaisers zu Zeiten der Weimarer Republik speisten sich aus unterschiedlichen Quellen: Konservative, nicht wenige Monarchisten, stützten ihr Negativurteil auf den 1921 veröffentlichten Memoirenband der "Gedanken und Erinnerungen" Bismarcks. Darin kam der alte Groll des Reichsgründers, der einst von Friedrichsruh aus spitze Pfeile in Richtung Berlin gesandt hatte, über die Regierungskünste und die Selbstherrlichkeit des jungen Monarchen zum Vorschein. Die liberale Öffentlichkeit bezog ihr Kaiserbild aus der Biographie des Schriftstellers Emil Ludwig, der seine in 200.000 Exemplaren verkaufte "psychologische" Studie mit denunziatorischen Zeugnissen "aus erster Hand" ausstattete.

"Samt und Stahl" - der metaphorische Titel umschreibt die von Zeitgenossen oft konstatierte Zwiespältigkeit der Persönlichkeit Wilhelms II. Diese Wahrnehmung entsprach nicht dem Idealbild einer über allen Zweifel erhabenen Führernatur, an der einerseits Wilhelm selbst Gefallen fand, wie sie andererseits die "Öffentlichkeit", das heißt die Medien im anbrechenden Massenzeitalter von einem "modernen Volkskaiser" erwarteten. In dem Buch sind Zeitgenossen versammelt, die - so der Herausgeber - weder "rechts" noch "links" einzuordnen sind.

Die Textsammlung beginnt mit dem in der Frankfurter Zeitung nach dem Tode Wilhelms (4. Juni 1941) erschienenen Gedenkartikel - der achtungsvolle Ton verrät die Distanz des anonymen Autors zum NS-Regime - und schließt mit den "Sein-zum-Herrschen" übertitelten Tagebucheinträgen von Jean-Paul Sartre. Dieser Auszug - eine Melange aus Sartres Lektüre Emil Ludwigs und seiner frühen Heidegger-Aneignung - gehört zu den weniger überzeugenden Dokumenten. Er bricht zudem dort ab, wo Sartre anhebt zu "versuchen, darüber nachzudenken", welche "Verantwortung Wilhelm II. am Krieg von '14 trägt."

Am Ende des Großen Krieges und in Versailles galt der Kaiser als Kriegsverbrecher. Lloyd George, der später zu Adolf Hitler auf den Berghof pilgerte, wollte ihn kurzerhand erschießen lassen. Nach Winston Churchill, der ihn 1937 in sein Buch "Great Contemporaries" aufnahm, "sollte die Geschichte (...) Wilhelm II. von der Anklage, den Weltkrieg geplant und angezettelt zu haben, freisprechen". Churchills demokratisch-überhebliches Verdammungsurteil galt dem deutschen Volk "für seine Unterwürfigkeit unter den barbarischen Gedanken der Selbstherrschaft". Als ob die westlichen Demokratien qua besserer Institutionen und höherer Moral je gegen Logik und Versuchung der Macht und des Krieges besser gefeit gewesen wären! Zudem: Churchill, Hocharistokrat ohne Adelstitel, zielt mit seiner Kritik am Charakter der Reichsverfassung vorbei. Diese befand sich längst auf dem Wege zur Parlamentarisierung.

Die Inhaltsliste umfaßt Namen wie Wilhelms Prinzenerzieher Otto Hinzpeter, Bismarck, Friedrich Naumann ("Unsere Fortschrittshoffnungen gründen sich mehr auf den Kaiser als auf den Reichstag"), Ludwig Thoma (mit einer Glosse über die Kaiserreden), Rudolf Borchardt, Walther Rathenau, Egon Friedell, Hans Blüher und andere. Zu Recht decouvriert Kohlrausch die Pose des distanzierten Kritikers, die Rathenau, selbst typischer Repräsentant des Zeitalters, in einer 1919 erschienenen Broschüre "Der Kaiser" einnahm. In Stil und Aussage über einen "frühen Eindruck" offenbart Rathenau Charakterverwandtschaft mit Wilhelm II.: "Ein Bezauberer und ein Gezeichneter. Eine zerrissene Natur, die den Riß nicht spürt; er geht dem Verhängnis entgegen." Zum eigenen Verhängnis gerieten ihm die angeblich bei Kriegsbeginn 1914 geäußerten Worte: "Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor reitet. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Nein! Nicht einer der Großen, die in diesen Krieg ziehen, wird diesen Krieg überdauern." Die Sätze dienten vor dem Rathenau-Mord in den rechtsradikalen Verschwörerkreisen als Beleg für "Verrat von Anfang an".

Das Negativurteil über den Kaiser beruht bis heute auf der Hochachtung vor der diplomatischen Kunst Bismarcks. Zum tieferen Verständnis jener weltpolitischen Konstellation, die 1914 in den "Selbstmord Europas" (Paul Ricœur) mündete, könnte der von Verehrung für den "Jungen Kaiser" getragene Essay Rudolf Borchardts dienen. Vom Wohnsitz in der Toskana aus diagnostizierte er 1908 den Wandel der Realität: "... das veraltete binneneuropäische Weltbild, auf dem Bismarcks äußere Politik beruhte, (sei) durch ein neues politisches Weltbild zu ersetzen, in dem Amerika, die Welt des Islam und der gelbe Orient Faktoren waren und England unter einem neuen Standard figurierte". Der Dichter irrte bezüglich der "vertrauensvollen Beziehung" des Kaisers zum US-Präsidenten Theodore Roosevelt. Die Freundschaft war lange vor dem Kriegseintritt der USA 1917 erkaltet.

Nicht alle Beiträge sind Pflichtlektüre. Zu den großen Dokumenten zählt der Artikel "Abdankung des Kaisers", den Theodor Wolff am 9. November 1918 veröffentlichte. Er schrieb: "Nur diejenigen sollen ihn nicht anklagen, die Hurra gerufen haben, als er ihnen 'herrliche Zeiten' und, im August 1914, die glanzvollsten Siege versprach." Wilhelm wollte ein Friedenskaiser sein. Er war kein Kriegstreiber.

Martin Kohlrausch (Hrsg.): Samt und Stahl. Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen. Landt Verlag, Berlin 2006, gebunden, 464 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Wilhelm II. mit Kronprinz, 1889: Friedens- und Fortschrittskaiser


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