© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

Im Drama gibt es keine Nebenrollen
Ihr galt's der Kunst: Mit Astrid Varnays Tod verklang eine der letzten hochdramatischen Stimmen
Eberhard Straub

Demokratische Völker haben nur sehr wenig Achtung vor Geschichten aus vergangenen Welten, wie Alexis de Tocqueville in den USA um 1830 beobachtete. "Es ist ihnen ganz gleichgültig, was sich in Rom und in Athen ereignete; sie wünschen, daß von ihnen selbst die Rede sei, und das Bild der Gegenwart ist es, das sie fordern", wenn sie ins Theater gehen. Dort erwarten sie das wirre Gemisch der ihnen vertrauten Lebensumstände. Vor lauter Bemühen um die kleinen Eigenheiten der Gegenwart und individueller Besonderheiten oder seltsamer Empfindungen bieten die Dichter häufig nur überladene, unzusammenhängende Bilder, die bisweilen das Wirkliche herbeisehnen lassen.

Alte Stücke würden höchstens als historisches Dokument philologisch betrachtet. "Aber man besucht die Stücke nicht mehr, die für ein anderes Publikum geschrieben worden sind." Tocqueville hatte allerdings nur sehr undeutliche Vorstellungen von dem Theater der Zukunft, das sich unter Richard Wagners Einfluß allmählich ankündigte: das Regietheater. Insofern konnte er nicht ahnen, daß Regisseure alte Stücke, nur noch historisch Gebildeten zugänglich und verständlich, als präparierbare Vorlagen dem wechselnden Zeitgeschmack anpassen würden mit seinem wirren Gemisch des Luxus, der Launen und der Moden.

Wagner wollte keinesfallshistorisieren und karikieren

Richard Wagner, der Erfinder des Regietheaters, behandelte das Wirkliche der großen Leidenschaften, das Besondere und Individuelle, in mythischen Bildern. Er wollte gerade jede unmittelbare Aktualisierung vermeiden, um die Liebe und das Leiden am Liebesverlust, die allmächtigen Allgewalten, die uns erst zu Menschen machen, nicht zu historisieren und damit zu banalisieren oder zu karikieren. Die Liebe überwindet in der Welt als Geschichte deren Widersprüche, sie befreit von der Geschichte und ihren widrigen Nichtigkeiten. Das Liebes- und Freiheitspathos der humanitären Sozialisten Proudhon und Bakunin begeisterte Richard Wagner zu seinem großen Welttheater.

Die Brünnhilde, die Sieglinde, die Isolde, die Kundry oder Senta sind Enthusiasten dieser Liebe. Astrid Varnay, jetzt im Alter von achtundachtzig Jahren in München gestorben, gehörte - neben Martha Mödl - zu den letzten Sängerinnen, die diese dramatischen Existenzen so intensiv vergegenwärtigten, daß die Zuschauer unter deren Bann vollständig die Künstlerin, die Astrid Varnay, vergaßen.

Für ein paar Stunden lebte Brünnhilde, und jeder lebte mit ihr, um endlich, wenn der Vorhang fiel, ihr, der Künstlerin, wie Siegfried hingerissen zuzujubeln: "Heil der Welt, der Brünnhilde lebt!" Die Unmittelbarkeit der Wirkung konnte so überwältigend sein, daß die Varnay selbst, wenn sie nicht zu singen hatte, eine Hauptfigur blieb. Sie konnte aus dem Kauern in der Ecke ein dramatisches Ereignis machen.

Sie hörte immer zu, reagierte, mischte sich ein, spielte mit, weil auf der Bühne als Bild des Lebens, das sich im Zusammenleben dramatisch entwickelt, alles lebendig und in dauernder Bewegung sein muß. Auch das Schweigen kann ein ungemein beredter Akt sein. Astrid Varnay war keine Opernsängerin, sie dachte dramatisch, sie sah in der Oper eine dramatische Kunstform, eine Dichtung, die unter anderem auch über das gesungene Wort zu ihrer Wirklichkeit mitten im Leben erwachte. Die Geste, Bewegungen, Lichtverhältnisse, die Stimmen im Orchester, alles gehörte in einen großen Zusammenhang. Im Drama gibt es keine Nebenrollen oder Momente gleichgültigen Verharrens, weil man gerade nicht im Mittelpunkt steht. Die Varnay konnte in diesem Sinne auch die Mamma Lucia in der Cavalleria Rusticana so eindringlich verkörpern, daß die überwältigten Münchner ihr Ovationen brachten, als wäre sie die Santuzza gewesen.

In schlechten Opern spielte sie selbstverständlich nicht

Astrid Varnay, die 1941 an der Metropolitan Opera in New York gleich mit der Sieglinde ihre Karriere begann, war bis 1988, bis zu ihrem Abschied von der Bühne in München als Klytemnästra in der "Elektra" von Richard Strauss, ein Weltstar. Sie wurde dazu, nicht weil sie ihre üppige Stimme virtuos ausstellte, sondern weil sie erwartete, mit einer Gruppe von Individualisten zusammenzuarbeiten, die sich gemeinsam der Devise Wagners aus den "Meistersingern" verpflichtetet fühlten: Hier gilt's der Kunst. Eitelkeiten verwarf sie als unprofessionell, weshalb sie umstandslos auch in Kaiserslautern oder Braunschweig auftrat, wenn damit "Parsifal" oder "Hänsel und Gretel" gedient war. Es gibt keine schlechten Rollen, höchstens schlechte Opern.

In schlechten oder mittelmäßigen Opern spielte sie - die auf der Bühne rund siebzig Gestalten zum Leben verhalf - selbstverständlich nicht mit. Denn es lohnt sich nicht, den ernsten Kunstverstand für unernste Werke oder unernste Absichten eines Regisseurs bei großartigen Werken einzusetzen. Sie hatte das Glück, in Wieland Wagner einen Regisseur zu finden, der denkende Sänger und Schauspieler brauchte, mitdenkende, die unter Umständen seine Einfälle, sofern sie ihrem Konzept nicht entsprachen, verwarfen und sich mit ihm auf überzeugendere einigten. Wieland Wagner konnte den Raum entleeren, auf alles Beiläufige verzichten, allein konzentriert auf das Wesentliche, weil er wußte, daß Hans Hotter, Josef Greindl, Gottlob Frick, George London, Martha Mödl, Ruth Siewert, Georgine von Milinkowicz, Günther Treptow, Wolfgang Windgassen, Hans Hopf und eine ganze Reihe anderer mit ihrer Intelligenz und Präsenz den Raum vollkommen durchdringen und füllen würden.

Wieland Wagner konnte sich auf diese Schauspieler verlassen, die zugleich alle auf ihre Art hervorragende Sänger waren, von denen er wiederum nichts verlangte, was ihrer Stimme oder ihrem Verständnis der Rolle widersprach. Regietheater erweiterte sich zum Musiktheater, wie es sich Wagner erhoffte, dessen Ideen Wieland, seine Sänger und nicht zuletzt die Dirigenten begeisterten. In Joseph Keilberth hatte er den Dirigenten gefunden, der nicht damit beschäftigt war, "seinen" Wagner mit dem Orchester ohne Rücksicht auf die Sänger zum klingenden Erlebnis zu machen. Keilberth dachte mit allen zusammen an das Drama, das nur durch das Zusammenwirken aller Kräfte in die Wirklichkeit einbrechen konnte. Varnay, die von 1951 bis 1966 zu Bayreuth gehörte, fand dort ideale Bedingungen vor.

Ihre Stimme war viel zu groß für die bürgerlichen Töchter aus besserverdienenden Kreisen, als die Isolde, Brünnhilde, Senta oder selbst Elsa heute vorgestellt werden. Sie war noch eine klassische Hochdramatische, deren Stimme in der soliden Tiefe ihr Fundament besaß und aus einer vollen Mittelage ihre Spitzentöne aufbaute. Wieland Wagner brauchte keine Kulissen, keinen Baum, wenn er Stimmen wie die der Varnay hatte. Er vertraute noch der Macht mythisch-erhellender Bilder. Heute mißtraut man ihr, auch in Bayreuth. Deshalb braucht man keine hochdramatischen Stimmen mehr. Wenn Wagners Dramen mittlerweile vorzugsweise in Industriellenkreisen mit Leidenschaft fürs Trabrennen, asexuelle Blondinen und heftiger Zuneigung zur NSDAP spielen, reichen schrille, hochgetrimmte lyrische Soprane für eine Brünnhilde Gibich, geborene von Wotan und geschiedene Freifrau von Wälsung-Rheinfelsen vollkommen aus.

Heute wäre Varnays Stimme unangemessen und peinlich

In solchen Kreisen wäre die tiefe Stimme der Varnay mit ihrem Aufstieg zu charakteristischen Höhen und bedeutsamen Abschwächungen bis in die Zonen des fast Verstummens, eine Stimme, die von der Götter und der Welt Ende Kunde gibt, unbedingt unangemessen und peinlich. Wenn es heute keine Sänger für Wagner mehr gibt, dann liegt es nicht zuletzt daran, daß nur noch Philologen, wie Tocqueville vermutete, diesen alten Geschichten trauen. Ein durch und durch demokratisiertes Publikum will in den alten Geschichten sich selbst und seinen wirren Gefühlen begegnen, möglichst in bekannten Zusammenhängen wie im kleinen Fernsehspiel kurz vor den Nachrichten.

Dafür braucht man keine Astrid Varnay mehr, die übrigens auch eine nervöse Besserverdienende wie die Marschallin, die Fürstin Werdenberg im "Rosenkavalier", sein konnte. Wer die Erhabenen durchgefühlt hat, kommt auch zur inneren Wahrheit der alltäglichen Existenzen, die halt so mitlaufen im Drama des Zusammenlebens.

Aber da sich indessen Fürstinnen von Putzfrauen oder Huren, ob auf der Bühne oder im wirklichen Leben, nicht mehr unterscheiden lassen, kommt es auf Nuancen, auf die Valeurs einer Stimme nicht mehr an. Ein paar fulminante Spitzentöne genügen, um zu überzeugen, daß die Sängerin Spitze ist. Das genügt. Das genügte der US-amerikanischen, in Schweden geborenen, von ungarischen Eltern abstammenden und mit einem deutschen Emigranten verheirateten Münchnerin Astrid Varnay überhaupt nicht. Sie dachte mit Freunden aus ihrer Generation an die Kunst, aber nicht an Mätzchen.

Fotos: Astrid Varnay (1918-2006), hier als Ortrud in Richard Wagners "Lohengrin" bei den Bayreuther Festspielen 1954, Wieland Wagner (l.) zusammen mit seinem Bruder Wolfgang


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