© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

Menschenwerk in Gottes Haus
Von wegen "Grundstückswert minus Abrißkosten": Die Kirchen fallen als kulturpolitische Macht ins Gewicht
Andreas Strittmatter

Es gibt hier und heute mehr Kirchen, als sich die Kirchen leisten können. Seit geraumer Zeit geistert dieses Thema mit entsprechenden Variationen regelmäßig durchs deutsche Feuilleton. Oder durch die Lokalteile, wie jüngst bei der Westdeutschen Allgemeinen. Dort ging es um die Essener Kirche St. Martin, die zu einem Altenpflegezentrum umgebaut wird. Eine Vorzeigediözese mag man Essen nicht nennen, eher eine zum verschämten Wegschauen: Über ein Viertel seiner Gotteshäuser will das Ruhrbistum dichtmachen. Zu wenig Gläubige, zu wenig Geld, zu viele Gebäude. Andernorts sieht die Lage noch besser aus, doch wirklich entspannt blickt kein deutscher Bischof (ganz gleich, welcher Konfession) in die Zukunft.

4,4 Milliarden Euro für kulturelles Engagement

Es gibt aber auch gute Nachrichten. Eine davon kommt vom Deutschen Kulturrat, der die Kirchen eben erst als "weitgehend unbekannte kulturpolitische Macht in Deutschland" entdeckt hat, wie Olaf Zimmermann bemerkt. In einem Gespräch mit Deutschlandradio Kultur im August gestand der Geschäftsführer des Rates, daß er selbst diesem Faktum lange Zeit weder Ohr noch Glauben schenken wollte, zwischenzeitlich aber von der Macht der Zahlen erschlagen sei: Rund 4,4 Milliarden Euro bzw. etwa 20 Prozent der Kirchensteuer setzen die beiden großen Glaubensgemeinschaften in Deutschland, so schätzen Gutachter, jährlich für ihr kulturelles Engagement ein.

Das ist mehr als nur ein Gnadenbrot für die Kunst - zumal, wenn andere Werte zum Vergleich herangezogen werden: 3,5 Milliarden lassen sich die Gemeinden, weitere 3,4 Milliarden die Länder Kultur kosten. Mit knapp 1,7 Milliarden liegt der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien da schon auf ziemlich abgeschlagenem Platz. Angesichts der Datenlage beließ es der Kulturrat daher auch nicht bei der schlichten Feststellung nackter Zahlen, sondern rückte das Thema in den Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe seiner Zeitung politik und kultur.

Doch wohin fließt das viele Geld? Zwei Felder liegen quasi auf der Hand, das eine sticht ins Auge, das andere kommt zu Ohr: Kirchenbauten und Kirchenmusik. Mit dem Bauen ist das in Zeiten, in denen Kirchen geschlossen werden, zwar so eine Sache, doch hin und wieder geschehen Zeichen und Wunder, und meist lassen sich die Kirchen dann keineswegs lumpen. In Freiburg etwa setzten beide Bekenntnisse im Verbund mit dem Ökumenischen Kirchenzentrum Maria Magdalena im Neubaustadtteil Rieselfeld den mit Abstand stärksten architektonischen Akzent jüngerer Zeit in der Stadt. Der nach einem Wettbewerb realisierte Entwurf der Kölner Architektin Susanne Gross erregte schon allein deswegen Widerspruch, weil sich das Gotteshaus samt integrierter Wohnungen, Gemeinderäume und Kirchenladen mit seinen Betonschrägen und asymmetrischen Fluchten der offenkundig zeitgeistigen Wohlfühl- und Toskana-Architektur des Quartiers radikal verweigert.

Der Löwenanteil kirchlicher Bautätigkeit erstreckt sich allerdings auf den Erhalt, wenn notwendig auch die Umgestaltung des Bestehenden - die Pflege solchen Erbes ist freilich keine viel geringere kulturelle Leistung als die Neuschöpfung. Und nicht minder kostspielig. So beziffert allein die Evangelische Kirche in Deutschland den Finanzbedarf zur Erhaltung ihrer mehr als 24.000 Sakralräume auf sechs Milliarden Euro in den kommenden Jahren.

Während Kirchengebäude oft als selbstverständlicher Teil des Stadtbildes wahrgenommen werden, spielt die Musik im Rahmen kultureller Transferleistungen eine deutlichere Rolle, angefangen vom Dorforganisten, der seinen Bach auf der Orgel pflegt und seinen Kirchenchor mit den Tücken von Mozarts "Ave verum" traktiert, bis hin zu Domchören und Kantoreien, die vor Ostern oder Weihnachten die Relikte einer bürgerlicher Kunstreligion mit Händels "Messias" erbauen.

Gerade Musik gilt Kirchenleuten als Mittel par excellence, um selbst Fernstehende ansprechen zu können. Niedrigschwellige Angebote wie "Kirchennächte" (meist Sammelsurium aller möglichen Künste, jedoch stets mit dezidiert musikalischen Schwerpunkten) oder die unverbindliche "Kantate zum Mitsingen" rühren allerdings nicht nur die Werbetrommel für den Glauben, sondern führen die Teilnehmer oft zu intensiver Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk, dessen religiöser Inhalt nicht zwingend im Vordergrund stehen muß.

Investitionen in Chöre und Pfarrbibliotheken

Angesicht der prekären Lage des Musikunterrichtes an den Schulen gewinnt ferner die musikalische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zunehmend an gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, selbst wenn beispielswegen die 3.150 Kinder- und 2.018 Jugendchöre innerhalb der katholischen Kirche mit ihren insgesamt guten 100.000 Sangesbegeisterten letztlich nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen. Doch immerhin: Es tropft stetig, und in den letzten Jahren sogar wieder mehr. Allemal reicht der kulturelle und soziale Mehrweit weit über das fromme Postulat alter Kirchenlieder hinaus: "Gott loben, das ist unser Amt" - zweifelsohne, spart aber unter Umständen auch einige Sozialarbeiter und Streetworker.

Zunehmend schreiben es sich Gemeinden auf die Fahnen, den Dialog mit der Kunst zu suchen und laden Maler und Bildhauer ein, ihre Werke hinter Kirchenmauern zu präsentieren. Bedeutendster Kopf dieser Bewegung ist der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes, der in seiner Kölner Kirche Sankt Peter seit 1987 eine "Kunststation" etabliert hat. Andernorts ist von "Kulturkirchen" die Rede, die ähnliche Konzepte ins Werk setzen. Ganze Kirchenbezirke rufen zwischenzeitlich Themen aus und laden Künstler ein, in den zugehörigen Gemeinden ihre dazugehörigen Gedanken in temporären Installationen zu manifestieren. Flankiert werden solche Aktionen von Vorträgen, Einführungen oder Seminaren im Bereich der Erwachsenenbildung - wobei letztere im Rahmen kirchlicher Kulturarbeit einen eigenständigen Unterpunkt darstellt, sofern man sich dort nicht nur mit Yoga, Yoni-Talk oder Lichtarbeit beschäftigt.

Zu den Klassikern im kulturellen Angebot der Kirchen gehören nicht zuletzt unzählige Pfarrbibliotheken, die vor allem in ländlichen Regionen die preiswerteste, nämlich meist kostenlose Möglichkeit offerieren, sich mit Lesestoff einzudecken. Über zwölf Millionen Euro investierten diese Kleinbüchereien im vergangenen Jahr in den Ausbau ihres Angebotes.

Was aber wird aus den Kirchen, die von Schließung bedroht sind? Auch hier hegen kirchliche Kreise Visionen, die das Abschiednehmen nicht ganz so schwer machen. Kulturelle Träger werden mit Blick auf den tristen Anlaß zwar nicht übersprudelnd hocherfreut, aber auf jeden Fall lieber gesehen als Bagger, Banker ("Der Ertrag einer Kirche ergibt sich aus dem Grundstückswert minus Abrißkosten") oder pietätferne "Umnutzer". In Weil am Rhein bei Basel zogen zum Beispiel ebenfalls Bücher in eine ehemalige Kirche - in diesem Fall allerdings von der weltlichen "Konkurrenz", der Stadtbibliothek.

Fotos: Altar in der gotischen Kirche Sankt Peter in Köln: Die dreiteilige Altarskulptur aus weißem Granit wiegt eine Tonne und stammt von dem baskischen Bildhauer Eduardo Chillida, Eine junge Frau vor der 1. Nacht der Kirchen in Darmstadt am 23. Juni dieses Jahres

Die Zeitung "politik und kultur" des Deutschen Kulturrates (Chausseestr. 103, 10115 Berlin) erscheint sechsmal jährlich. Tel.: 030 / 24 72 80 14, Internet: www.kulturrat.de 


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