© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Intime Szenen für privaten Tiefsinn
Genie auf der Suche: Mit drei Rembrandt-Ausstellungen hält Berlin die Deutungshoheit über den Bürger
Wolfgang Saur

Die Faszination einer Kunst, die nach 400 Jahren nichts von ihrer geheimnisvollen Aura eingebüßt hat, bezeugten schon vor der Publikumseröffnung Warteschlangen vor Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett und Studiengalerie am Kulturform Potsdamer Platz in Berlin. Etwa 500 Gäste strömten Anfang August zur festlichen Eröffnung der großen Berliner Rembrandt-Ausstellungen. Bis 5. November wird Berlin mit seinem dreiteiligen "Rembrandt-Block" die anspruchsvollste Retrospektive mit 277 Schlüsselwerken: Zeichnungen, Druckgrafik und 82 Gemälden zum Jubeljahr bieten. Nicht einmal der locus genii Amsterdam, dessen Museum Het Rembrandthuis mit der Gemäldegalerie kooperiert, würdigt den Maler derart umfassend.

Das gibt hiesigem Ehrgeiz 2006 nun repräsentatives Gewicht. Dessen Anspruch gründet in der großen kennerschaftlichen Tradition der Berliner Kunstwissenschaft. Wilhelm Bode (1845-1929), der "Napoleon der Kunstgeschichte" und imperiale Direktor der Museen, hat nicht nur die preußische Rembrandt-Kollektion entscheidend vermehrt (so um den weltberühmten "Goldhelm"), sondern galt stracks als "Papst der Rembrandt-Forschung", was sein einschlägiges Riesenwerk in acht Bänden (1897-1905) eindrucksvoll dokumentiert. Sein heutiger Amtsnachfolger, Peter Schuster, kommentiert das mit Blick nach Bayern: München habe Rubens, Berlin aber Rembrandt; und wer Rembrandt vertrete, sei "im Besitz der Deutungshoheit über den bürgerlichen Menschen".

Jedenfalls bringt die Hauptstadt bis heute Rembrandt-Kenner hervor, Experten von hohem Rang. So Jan Kelch, Chef der Gemäldegalerie bis 2004. Kelchs vielfältiges Engagement um Rembrandt gipfelt im aktuellen Großprojekt, das seinen Nachfolger, Bernd Lindemann, einbezieht, vor allem aber Holm Bevers vom Kupferstichkabinett viel verdankt. Der hat in heroischem Fleiß über zehn Jahre den berühmten Zeichnungsbestand analysiert und just zum Gedenkjahr einen kritischen Katalog als veritables Forschungsergebnis vorgelegt. Höchste Zeit, liegt doch die letzte Totalerfassung des Rembrandtschen Zeichenwerks lange zurück (1954-57). Otto Benesch hatte damals 1.400 Arbeiten als authentisch eingestuft. Die haben sich seitdem um 50 Prozent verringert. Bevers schreibt jetzt von 127 Berliner Blättern nur mehr noch 55 dem Meister zu, den Rest Schülern und seiner Werkstatt. All das differenziert und erkundet nun der "Rembrandt-Block", der sich besonders den Themen der Zuschreibung und der Werkstatt als "Laboratorium" widmet.

Am Ausstellungskonzept maßgeblich beteiligt ist der prominente Ernst van de Wetering, dessen Leben seit 1968 um Rembrandt kreist. Damals entstand das ungeheure Rembrandt Research Project, das er inzwischen leitet. Seitdem dreht sich alles um Zu- und Abschreibung, um Stilkritik. 2005 kam der protzige vierte Band des Riesenkorpus heraus.

Die internationale "Abschreibungswelle" reagiert auf die vom "heißen Markt" um 1900 provozierte "Zuschreibungsinflation", bei der "Originale" wie Pilze aus dem Boden schossen. Dabei geht es nicht eigentlich um "Fälschungen". Die existieren im Falle Rembrandts kaum. Dessen Kreis hat vielmehr sein Werk aufgegriffen, nachgeahmt, variiert, kreativ umgesetzt - eben wie im Prunkstück des "Mannes mit dem Goldhelm". Andere Bilder existieren in zwei Versionen; so ist es Aufgabe der Stilkritik, Meister- von Schülerhand zu scheiden. Vor allem die prachtvolle Gemäldeschau in den, nach Farbgrund und Ausleuchtung stimmungsvollen Räumen fügt mit Leihgaben aus aller Welt ein spannendes Kaleidoskop zusammen, das den Betrachter durch Umsicht und Vergleiche schult. Rembrandts Schaffen wird ganz abgedeckt; dabei sind legendäre Tafeln wie der "Mennonitenprediger Cornelius Anslo und seine Frau" (1641) oder das einfühlsame Bild Hendrijke Stoffels' "an geöffneter Obertür" (1656).

Von der genialen Komposition des reuigen Judas (1629) bis zur menschlichen Intensität der "Judenbraut" (1665) zeigt der Meister nicht nur Charaktergröße und seelische Kraft, sondern immenses Formkönnen. Insoweit ist der klassische Vorwurf formaler Defizite abwegig. Trotzdem gibt es im Werk Häßliches, Nachlässigkeit, gestalterische Flauten, die - nach welcher Ästhetik auch immer - nicht überzeugen. Launig schrieb die Berliner Morgenpost über Rembrandts "braune Soße" und "wattigen Pinsel", sarkastisch das legendäre Hell-Dunkel parodierend.

Dem Kunstfreund stößt freilich so manches auf: makabre Nekrophilie und Himmelfahrtkitsch der Passionsbilder, bourgeoise Betulichkeit und frommer Biedersinn, die Mystifikation der "Charakterköpfe", der Requisitenschwulst, die plumpen Akte und schweinsköpfigen Frauen, fahriger Duktus und Formauflösung im Spätwerk, die penetrante, ewige "Innigkeit des Gemüts".

Der Affekt besagt etwas über unseren Abstand zu Rembrandts Personalismus, dem bürgerlichen und christlichen: ein Entschwinden des protestantischen Zeitalters, das schon historisch ist. Tatsächlich zeigt die Rembrandt-Schau, erstaunlich monoton, eine unendliche Reihe von Personen, Köpfen, Gesichtern. Die schauen uns an mit tiefem Ernst, demütig, bisweilen derb. Neue Forschung will nun den "Mythos" vom protestantischen Maler "dekonstruieren" - mit fadenscheinigen Pseudoargumenten!

Berlin bestätigt den gegenteiligen Befund: Fast ausnahmslos fehlen die Heiligen und Märtyrer in Rembrandts Werk, die Kirchengeschichte sowieso. Seine Themen sind biblisch. Doch mehr noch kontrastiert seine Bildregie mit der gegenreformatorischen. Schaffen die Katholiken, kirchlich-kultisch-repräsentativ, öffentliche Kunst, die Theologie effektvoll inszeniert und so den Gläubigen suggestiv umwirbt, malt Rembrandt intime Szenen für privaten Tiefsinn, Parabeln individueller Andacht. Die schildern keine außerweltliche Erhebung, vielmehr ein innerweltliches Frommsein, das Bürgerlichkeit biblisch durchdringt. Einfalt, Biedersinn, edle Rührung grundieren eine ganze Welt - dahinter dann Leiden und Größe des Genies.

Doch dieser obsessive Individualismus hat sich verbraucht, all seine Auf- und Abschwünge, die Tragödien und Siege des Bürgertums. Erde und Himmel sind übervölkert, das Individualprinzip verkleistert den Horizont. Vielleicht fesseln uns deshalb auch weniger die orientalisch maskierten Calvinisten, die heroisch sich in Szene setzen, als diejenigen Werke, die Menschliches aufheben in eine andere Dimension: die surreale Phantastik des "Raubs der Prosperina" (1631), oder aufsaugen lassen vom Licht "beim Mahl der Esther" (1660). Dies Licht birgt freilich manch Geheimnis mit Ab- und Tief- und Hintergründen; das sprengt den bürgerlichen Gestus und spottet seinem Hinfall. Dahinter ein Schweigen, das Rembrandts Suche endet.

Die Ausstellungen "Rembrandt - Genie auf der Suche" (Katalog: 30 Euro), "Rembrandt. Der Zeichner" (Katalog: 28 Euro) und "Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik" (Katalog 19,90) sind bis zum 5. November am Kulturforum Potsdamer Platz, Matthäikirchplatz, zu sehen.Öffnungszeiten: Täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, Do. bis 22 Uhr. Telefon: 030 / 2 66 36 68

Fotos: "Junge Frau an geöffneter Obertür" (1656), Rembrandt, "Der Mennonitenprediger Cornelius Anslo und seine Frau" (1641), Rembrandt der Zeichner, "Der ungezogene Knabea" (um 1635)


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