© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Ein neues Kuchenrezept für Deutschland
Bündnis 90/Die Grünen: Auf ihrem Zukunftskongreß in Berlin sucht die ehemalige Regierungspartei neue Themen und pflegt ihre alten
Marcus Schmidt

Die Frau lächelt gequält, die Sache ist ihr peinlich. "Gib's uns. Dein Auftrag an die Bundestagsfraktion", steht auf der Stellwand neben dem Fernseher, auf dem die Delegierte des Zukunftskogresses von Bündnis 90/Die Grünen nun sieht, was sie eben in dem improvisierten Fernsehstudio "ihrer" Bundestagsfraktion mit auf den Weg gegeben hat. Mit wachsendem Unbehagen verfolgt sie, wie ihr Spiegelbild auf dem Bildschirm davon spricht, daß die Fraktion daran arbeiten müsse, den Islam in Deutschland auf eine "wissenschaftliche Ebene" zu heben, wie notwendig es sei, an den Universitäten islamische Fakultäten einzurichten, an denen Imame ausgebildet werden können. Die Frau lächelt verlegen und wendet sich ab.

Drei Tage lang versuchte die ehemalige Regierungspartei am vergangenen Wochenende sich mittels Diskussionen und "Workshops" selber Mut zu machen, sich ihrer urgeigensten Themen zu vergewissern (Ökologie) und sich neue Themenfelder zu erschließen (Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik). Ziel der Übung im Energie-Forum im Berliner Stadtteil Friedrichshain: die Rückkehr in die Regierungsverantwortung.

Natürlich durfte bei dieser Gelegenheit auch der alte bunte Traum der Grünen von der multikulturellen Gesellschaft nicht fehlen, der heute etwas verschämt als "Zukunftsthema Integration" daherkommt. "Wer ist Deutschland? Deutschland bunte Heimat?" fragte etwa Omid Nouripour, der im Bundestag gerade den (Sitz-)Platz von Joschka Fischer eingenommen hat, in einer Podiumsdiskussion zum Thema. Integration, so konnte man dabei lernen, ist für die Grünen zuvorderst eine Angelegenheit der Zuwanderer. Sie entscheiden darüber, unter welchen Bedingungen sie sich wie in die Gesellschaft eingliedern. Oder wie war es zu verstehen, daß das Podium ausschließlich mit "Menschen mit Migrationshintergrund" besetzt war? Die Parteivorsitzende Claudia Roth hatte es sich unterdessen auf einem der zahlreichen Pappkartons, die als Sitzgelegenheit dienten, im Publikum bequem gemacht und hörte gespannt zu.

Sie konnte hören, wie Maria do Mar Castro Varela vom Kölner Institut für Migrations- und Soziale Ungleichheitsforschung die Zielrichtung der Integration in Frage stellte. Nicht die vielfach angemahnte Eingliederung in die deutsche Mehrheitsgesellschaft forderte sie. Die Wissenschaftlerin formulierte weitergehende Ziele und empfahl, von der "mythischen Norm", dem Durchschnittsbürger, abzurücken. Dieses Idealbild sei in Deutschland immer noch weiß, zwischen 20 und 30 Jahren, gut verdienend und gebildet.

Längst geht es nicht alleine um eine Teilhabe der Zuwanderer an der Gesellschaft: "Ich will den Kuchen nicht neu teilen, sondern das Rezept verändern", sagte Varela. Eine Demokratie, so ihre Erkenntnis, müsse sich weiterentwickeln. Einmal festgesetzte Gesetze dürfe es nicht geben, das sei Faschismus. Das roch nach Revolution, und fast meinte man ein wohliges Gemurmel im durchschnittsgrünen Publikum zu vernehmen. Da kam sie wieder zum Vorschein, die urgrüne Utopie von der am Reißbrett entworfenen idealen Gesellschaft: "Liebe Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht alleine." Daß der Weg steinig ist, verschwieg Varela nicht: "Es tut weh, eine solche Gesellschaft zu entwickeln".

Nach derlei Ausflügen drängte Zümrüt Gülbay, Rechtsprofessorin an der Fachhochschule Anhalt, die Diskussion auf den Boden des Grundgesetzes zurück. Die Verfassung, so versicherte sie, sei eine gute Ausgangsposition für die Integration der Zuwanderer in Deutschland. Es gelte, diese in ein Gesellschaftsmodell umsetzten. Bei soviel Verfassungspatriotismus war naturgemäß kein Platz mehr, um über eine wie auch immer geartete deutsche Leitkultur zu reden. Das Thema hat sich für die Grünen längst erledigt.

Omid Nouripour, der nicht alle Verfassungsgrundsätze gleichermaßen schätzt und dies jüngst demonstrierte, indem er einem Kiosk sämtliche Exemplare der JUNGEN FREIHEIT abkaufte und diese demonstrativ einer Mülltonne übergab, hatte am Ende sowieso schon längst den Faden verloren: "Ich fühle mich komplett überfordert, die Diskussion zusammenzufassen."


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen