© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/06 01. September 2006

Israels Dilemma
von Heino von Bosselmann

Israels vermeintlich als Selbstverteidigung begonnener Aggressionskrieg, der bislang eher die Zivilbevölkerung als die ins Ziel genommene Hisbollah-Miliz traf, erschien in seiner Härte und zivilen Opferzahl nahezu beispiellos und muß durch die Weltgemeinschaft verurteilt werden. Angesichts der divergierenden Interessen der Großmächte führte dies allerdings nur zu einer zahnlosen Uno-Resolution, die keinen Frieden garantieren kann, da die Europäer, vor allem Frankreich, mauern und Truppen bislang nur von islamisch geprägten Ländern wie Indonesien und Bangladesch entsandt werden können, die nicht einmal diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten. Aufschlußreich: Eine Flotte würde mancher gern stellen, nur eben nicht an Land gehen, um zwischen die Fronten zu geraten oder gar die kampferfahrene Hisbollah zu entwaffnen. Premierminister Ehud Olmert hätte gern deutsche Truppen in der Pufferzone gesehen - freilich als Verteidiger Israels und nicht als Sicherheitsgaranten gegen beide Kriegsparteien.

Den Libanon in seiner Infrastruktur zu zerstören und die Ermordung Unschuldiger in Kauf zu nehmen, um dadurch eine auf dem Boden des Landes agierende Terrororganisation auszumerzen - das hätte völkerrechtlich nicht sanktioniert werden dürfen, zumal Israel das Problem durch eine ehrlichere Politik gegenüber den Palästinensern vor Jahren hätte lösen können. So einfach jedoch vermag die Weltgemeinschaft - abgesehen von der diplomatisch verordneten Pietät gegenüber Israel - den neuen Nahostkrieg nicht widerzuspiegeln, denn andererseits kann Tel Aviv als Vorposten der westlichen Wertegemeinschaft gelten, dem man die Drecksarbeit im Kampf gegen den anachronistischen, menschenverachtenden und religiös pervertierten islamistischen Fundamentalismus wegsehend überläßt.

Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht in seinem jüngsten Aufsatz ("Die Bevölkerungswaffe der Islamisten", Cicero, August 2006) den Islamismus gewissermaßen als antiwestlichen und antiamerikanischen Nachfolger kommunistischer Heilsbotschaften an, der durch die Heerscharen frustrierter und zu kurz gekommener Jungmoslems gefährlichen Zulauf erhielt. Läßt sich der Islamismus auch mit einer politisch manifestierten und immer noch rational handelnden Ideologie wie dem Kommunismus kaum vergleichen, so stellt er tatsächlich eine Form schlimmsten Totalitarismus dar, der in seinem internationalen Agieren mittlerweile in der Lage ist, den Westen existentiell zu gefährden, zumal der von sozialer und politischer Frustration sowie dem arabisch-persischen Wirtschaftsversagen getragene Fanatismus in verschiedenen Staaten Staatsdoktrin geworden ist und in weiteren Ländern die klare Tendenz dazu entwickelt.

Auch säkular orientierte und sunnitisch geprägte arabische Länder können sich der Anziehungskraft des Erfolgs der schiitischen Hisbollah nicht entziehen. Gerade der Iran aber ist in seinem hegemonialen Bestrebungen offenbar kaum mehr einzudämmen und muß als Verhandlungspartner wohl oder übel akzeptiert werden, zumal die USA mit ihrem verlogen begonnenen Irak-Krieg nicht nur das strategisch falsche Ziel ins Auge gefaßt haben, sondern mittlerweile in einem Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten festsitzen. Seitdem die US-Armee zwischen Euphrat und Tigris gebunden ist, können die persischen Ajatollahs und Mullahs dreist agieren. Ihre Atompolitik und das Patronat über die Hisbollah-Fanatiker zeigen deutlich, daß Teheran in seinem Machtstreben kein Blatt mehr vor dem Mund nehmen muß und die autokratischen Staaten der Arabischen Liga nicht nur verunsichert, sondern außenpolitisch paralysiert hat.

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Einerseits agiert Israel als Verteidiger des eigenen Staates gleichfalls im Interesse der USA und der westlichen Gemeinschaft, andererseits bedient es sich staatsterroristischer Mittel, was wiederum die antiwestliche Haltung im Nahen Osten verhärtet.

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Insofern liegen die verzweifelt brutalen Militärschläge Israels, die den Libanon tief trafen und den antiisraelischen Haß verstärkten, durchaus im strategischen Interesse des Westens und seiner labilen arabischen Bündnispartner. Der Betrachter steht in einem Dilemma: Einerseits agiert Israel als Verteidiger des eigenen Staates gleichfalls im Interesse der USA und der westlichen Gemeinschaft, andererseits steht außer Frage, daß es sich seit seiner Gründung staatsterroristischer Mittel bedient und für die eigene Sicherheit Tausende unschuldiger Opfer in Kauf zu nehmen bereit ist. Daß der Westen es dafür nicht einmal moralisch verurteilt, verhärtet wiederum die antiwestliche Haltung im Nahen Osten. Israel kann offenbar nicht anders handeln, wenn es, umgeben von mehr oder weniger autokratisch regierten arabischen Ländern und mit palästinensischen Vertriebenen vor der Haustür, bestehen will. Begründet wird die aggressive Vorwärtsverteidigung mit dem Abstraktum "Existenzrecht Israels", einem stehenden Begriffskonsens, vor dem jede Kritik politisch korrekt zu schweigen hat.

Der moderne Staat Israel entstand als politisch wie kulturell fremdes Implantat in einem fast zweitausend Jahre durch Araber geprägten Siedlungsraum, im einst britischen Mandatsgebiet Palästina, das die zionistische Bewegung des europäischen Judentums zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Zielort jüdischer Heimkehr ausrief. Vor einem im Westen latenten, in Osteuropa aber akuten Antisemitismus sowie mit der Berufung auf längst vergangene orientalische Geschichte und noch viel mehr auf alttestamentarische Mythen drängten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts religiös, nationalistisch und sozialistisch inspirierte jüdische Siedler in eine Region, in der sie längst kein tradiertes Heimatrecht mehr beanspruchen durften, wo sie aber seit 1917 von der Mandatsmacht Großbritannien gegen sie Araber unterstützt wurden. Bereits vor dem Holocaust verzehnfachte sich die jüdische Einwanderung in Palästina und rief zunächst Unmut, später Widerstand seitens der Araber hervor.

Woraus resultiert eigentlich das vielbeschworene Existenzrecht Israels? Der Verweis auf den Holocaust hat zwar unbedingte moralische Geltung, wurde aber vom späteren Staat Israel selbst erst nach dem Sechstagekrieg 1967 und der damit einhergehenden Besetzung von Gaza, Westjordanland, Sinai und Golan als Generalargument eingesetzt. Vorher wurde die Shoa eher verdrängt und als katastrophales Desaster einer wehrlosen Dulder- und Opfergemeinschaft angesehen, die vom NS-Terror vernichtet worden war. Daraus eben sollte die wehrhafte Staatsdoktrin Israels später die selbstverständlichen Lehrer gezogen haben. Zuvor bezog der durch fremde Einwanderer entstandene Judenstaat seine Legitimation aus der zionistischen Idee, die Theodor Herzl in seinem Buch "Der Judenstaat" 1896 zusammengefaßt hatte. Das genau war das Programm der Jewish Agency of Palestine, die die Einwanderung organisierte. Aus der Ideologie dieses Zionismus leiteten jüdische Siedler ihr Recht her, arabischen Siedlungsraum in Besitz zu nehmen. Hier liegt der Gründungsimpuls des Staates Israel viel eher als etwa im grausamen Verbrechen des Holocaust.

Die aktuelle Politik hat aber von Tatsachen auszugehen, die die "political correctness" möglichst verschweigt: Aus der Perspektive der angestammten und mit System vertriebenen arabisch-islamischen Bevölkerung stellte die Gründung Israels schon deswegen eine historische Ungerechtigkeit dar, weil bereits mit Aufteilung des ehemaligen Mandatsgebietes durch den Teilungsplan der Uno vom 29. November 1947 dem künftigen jüdischen Staat die fruchtbarsten Regionen zugesprochen wurden, während sich die Palästinenser mit dürftigen Lagen zu bescheiden hatten. Insofern war das religiös ohnehin gespannte Verhältnis zwischen Juden und Arabern bereits entscheidend vergällt. Israel verstand es jedoch nicht nur, die den jungen Staat angreifenden arabischen Armeen in den verschiedenen Nahostkriegen bisher zu besiegen, sondern eine Nation zu begründen, deren Wirtschaft und Kultur in einer Weise aufblühten, wie es keinem arabischen Staat gelang.

Alimentiert von den USA, getragen vom Lobbyismus der jüdischen Weltgemeinschaft, aber ebenso bestimmt von der Euphorie einer jungen Aufbaugeneration, wurde Israel zur einzigen echten Demokratie in Nahost. Was es innenpolitisch erreichte, wurde außenpolitisch teuer mit der Feindschaft der vertriebenen und diskriminierten Palästinenser sowie der geschlagenen und gedemütigten arabischen Nachbarn erkauft. Fundamentalismus und Terrorbereitschaft in der muslimischen Welt sind nicht zuletzt durch die Arroganz und Aggressivität israelischer Politik provoziert worden, der es nie um einen gerechten Ausgleich zwischen Juden und Arabern ging. Der Nachname des Hisbollah-Führers übersetzt sich mit "Sieg Allahs". Ihm gelang es, der israelischen Armee über Wochen zu widerstehen. Keine arabische Streitmacht vermochte in den verschiedenen Nahostkriegen derartiges zu erringen. Hassan Nasrallah erstrahlt damit als neue islamische Leitfigur. Durch wen sollte die Hisbollah sich nun entwaffnen lassen? Alttestamentarische und schiitische Heils-erwartungen verhindern in ihrer Polarisiertheit weiter eine moderate Politik.

Nachdem den Israelis ein einigermaßen fairer Ausgleich mit den Palästinensern, deren PLO und lange Zeit mit den arabischen Nachbarn als ausgeschlossen galt, weil daran der Preis der eigenen staatlichen Existenz zu hängen schien, kam zumindest gegenüber Ägypten und später Jordanien ein realpolitischer Prozeß in Gang, der im Geist von Camp David für Entspannung sorgte, während Kontakte zur PLO wegen deren terroristischer Arafat- bzw. Al-Fatah-Methoden nach wie vor tabuisiert wurden. Nachdem jedoch unter der Ägide von Itzhak Rabin und Schimon Peres endlich Verhandlungen erfolgten, die schließlich in die Osloer Verträge mündeten, wurde deren Realisierung von den israelischen Folgeregierungen unter Benjamin Netanjahu und Ehud Barak bewußt verzögert. In diesem vermeintlich schlauen Kalkül des Hinhaltens und Aussitzens lag der entscheidende Fehler; und er führte mit Scharons fatalem Besuch auf dem Tempelberg zur dritten Intifada und neuen Selbstmordattentaten. Daß Israel den Ausgleich mit den Palästinensern gerade hinsichtlich des Rückzugs aus Westbank und Gaza vorsätzlich und aus der Position vermeintlicher Stärke heraus verschleppte, stand weniger im Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit als der palästinensische Terror, der daraus erwuchs.

Einerseits schürte man mit der wortbrüchigen Haltung den Terror der zunehmend islamistisch auftretenden Selbstmordattentäter und beförderte durch politische Verschlagenheit den Aufstieg der Hamas, andererseits machte man für deren Gewaltexzesse die schwache Autonomiebehörde verantwortlich, auf die man militärisch in Ramallah einschlug und die von der eigenen Bevölkerung als politischer Versager gegenüber der israelischen Hinhaltetaktik angesehen wurde und sich überdies in Korruptionsaffären diskreditierte und selbst aufrieb. Der Gazastreifen wurde von der Regierung Scharon nur geräumt, um im Westjordanland weiterhin israelische Siedlungen halten zu können. Ein weiterer vorsätzlicher Betrug an der palästinensischen Seite, die sich dann in Gestalt der Hamas folglich gegen Israel radikalisierte und in der gemäßigten, aber an ihren Aufgaben versagenden PLO Kollaborateure und Dilettanten sah.

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Daß der Iran weiterhin dreist an seinen Atomplänen festhält, ist ein ebensolches Menetekel wie die Tatsache, daß die übermächtige israelische Armee zwar jüngst den Libanon zu zerstören, aber die Hisbollah nicht entscheidend zu treffen vermochte.

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Da Israel an einem gerechten Ausgleich mit den Palästinensern seit Beginn der jüdischen Wiederbesiedlung nie interessiert war, wird sich das Nahostproblem nicht friedlich lösen lassen, egal welche Resolutionen die Uno in New York drucken läßt. Sahen sich die palästinensischen Araber schon bei der Aufteilung des einstigen Mandatsgebiets betrogen, hatten sie sich schließlich mit Gaza und den ihnen jenseits der Mauer zugesprochenen Teilen des Westjordanlands mit einem Reservations- oder Homelandstatus zu begnügen. Von einem palästinensischen Staat mit Gestaltungs- und Überlebensmöglichkeiten konnte nie die Rede sein, zumal die beiden palästinensischen Gebiete von Israel wirtschaftlich und militärisch stranguliert werden. Gaza und Westjordanland sind durch die Autonomiebehörde miserabel verwaltete Elendsquartiere an der Türschwelle Israels, in denen sich die Radikalen zu Fürsprechern der Elenden machen, die Zweckallianz mit der schiitischen Hamas begründeten und neue verzweifelte Konflikte mit dem übermächtigen Israel provozieren.

Während die PLO als Gegner Israels mittlerweile ausschied, erwuchs nach dem Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon in der vom Iran ausgehaltenen Hisbollah ein ungleich gefährlicherer Feind, denn dieser Terrororganisation geht es nicht allein um die Palästinenser und schon gar nicht um die arabisch-sunnitische Sache mit ihren einstigen Anleihen bei sozialistischen und nationalistischen Ideen, sondern um den Export der iranisch-schiitischen Mullahrevolution, die von persischer Vorherrschaft und mittelalterlichem Hochlandislam träumt, sich aber in jedem Fall die Vernichtung des jüdischen Staates auf die Fahnen geschrieben hat.

Die Selbstverteidigung Israels gegen die Raketenangriffe der Hisbollah ist absolut legitim, auch wenn Israel seine Feinde durch eine verfehlte und arrogante Machtpolitik selbst zu den Waffen rief. Wahrscheinlich müssen zivile Opfer in Kauf genommen werden, wenn die hegemonialen Bestrebungen Irans, der derzeit wohl größten Bedrohung für den Frieden in der Region und in der Welt, eingedämmt werden sollen. Fatal nur, daß die USA in ihrer völlig verfehlten Irak-Politik unter George W. Bush ihr stets brüchiges Vertrauen in der arabischen Welt vollends verspielt haben, nachdem sie mit der vor der Weltgemeinschaft bewußt vertretenen Lüge von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen den strategisch falschen Gegner angriffen und dort nur verbrannte Erde hinterließen. Diese verfehlte Politik eröffnete dem weit gefährlicheren Iran Spielräume, die dessen neuer Präsident aggressiv nutzt. Nicht nur das Schicksal des Nahen Ostens wird sich daran entscheiden, ob eine "Containment"-Politik gegenüber dem Iran und dem von ihm maßgeblich getragenen islamistischen Fundamentalismus noch erfolgreich sein kann, wenn schon eine friedliche Einigung angesichts des unglücklichen Agierens von USA und Israel einerseits sowie eines irrationalen Fundamentalismus andererseits unmöglich erscheint.

Es ist zudem ein Fehler, daß die westliche Politik sich allzu empfindlich gegenüber Syrien zeigt. Syrien ist das schwächste Glied in der Zweckgemeinschaft mit Iran und Hisbollah. Es ist säkular geprägt und fordert vor allem die Räumung der Golanhöhen. Eine Annäherung an Baschar al-Assad ist realpolitisch möglich, ja wird von Syrien offenbar erwartet. Das würde sowohl die Positionen Irans als auch der Hisbollah schwächen. Bislang findet es aber gerade die deutsche Außenpolitik klug, Syrien wegen polemischer Ausfälle des Präsidenten zu schneiden, die nur eine arabische Regelpoetik gegenüber der Bevölkerung einhalten.

Daß der Iran weiterhin dreist an seinen Atomplänen festhält, ist ein ebensolches Menetekel wie die Tatsache, daß die übermächtige israelische Armee zwar jüngst den Libanon zu zerstören, aber die Hisbollah nicht entscheidend zu treffen vermochte. Die Existenz Israels als Staat stünde als erstes in Frage, wenn der strategische Konflikt nicht in nächster Zeit entschärft werden kann. Optimismus fällt angesichts der verfehlten Strategie der USA wie ihres Juniorpartners Israel allerdings schwer. An der Grenze zwischen Israel und dem Libanon ist so gut wie nichts entschieden. Zu einem entwaffneten Frieden finden sich weder Israel noch die Hisbollah bereit. Beide Kontrahenten werden ihre nächste Chance kaltblütig ergreifen, und die Uno wird über neue Resolutionen reden.

 

Heino Bosselmann ist Lehrer an einem Internatsgymnasium. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt zum Thema "Das Mißverständnis von Elite" (JF 18/06).


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