© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/06 01. September 2006

Das Parteivolk rebelliert
Grundsatzdebatte: Die Diskussion um ein neues Programm deckt die Kluft innerhalb der CDU auf / Stammwähler vergrault
Paul Rosen

Es gärt in der Union. Auf dem als Heerschau geplanten CDU-Kongreß zum neuen Grundsatzprogramm lief der Regie in der vergangenen Woche einiges aus dem Ruder. Statt wohlfeile Reden von Kanzlerin Angela Merkel und anderen Würdenträgern der Partei zu verbreiten, meldeten Nachrichtenagenturen einen Aufstand der Basis. Und zu allem Unglück mischt sich jetzt auch noch die CSU offenbar mit großer Rauflust in den Streit ein. Die Zukunft der CDU ist ungewisser denn je. Und Merkel hat auch nicht genau gesagt, wohin die Reise gehen soll.

In einer gut halbstündigen Rede stellte die Kanzlerin vor den Funktionären mehr Fragen zur Ausrichtung der Partei, als sie selbst beantwortete. Nur knapp setzte sie sich mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers auseinander, der während des Berliner Sommertheaters zu ihrem Hauptkontrahenten in der Partei aufgestiegen war. Auf dessen Forderung nach mehr sozialem Ausgleich antwortete sie mit dem Hinweis, die traditionellen CDU-Werte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit seien keine Gegensätze, stünden aber auch nicht in einer vorgegebenen Reihenfolge. Die CDU sei immer die Partei der Sozialen Marktwirtschaft gewesen und werde das auch bleiben, sagte Merkel. In der Partei werde gelegentlich eine "Phantomdebatte" geführt, klagte die Kanzlerin.

Das Phantom ist jedoch sehr real. Die Umfragewerte für die Union verharren bundesweit bei knapp über 30 Prozent. Und zöge man die hohen bay-erischen CSU-Werte ab, käme die CDU in ihrem Einzugsbereich kaum auf 30 Prozent. Merkel und ihre Führungsmannschaft verbreiten eine kalte Ökonomie, die Herzen der Menschen erreichen sie nicht mehr. Sie glauben, daß sie mit dem Drehen an Steuer- und Sozialabgabenschrauben die wirtschaftlichen Probleme lösen, Wahlen gewinnen und Menschen begeistern können. Das meinte Rüttgers mit seinem Vorwurf der "Lebenslüge" in Wirklichkeit. Er blieb auf dem Kongreß bei seiner Haltung: Zwei Drittel der Bevölkerung dächten so wie er. "Was ich gesagt habe, bleibt richtig."

Ein tiefer Riß geht durch die CDU. Leute wie Rüttgers und die Vielzahl schweigender oder nicht gehörter kleiner Funktionäre und einfacher Mitglieder sind erzürnt, wie die bürgerliche Stammkundschaft der Union vergrault wird. In der CDU wird das höchstens hinter verschlossenen Türen in Landesvorständen oder niedrigeren Gremien diskutiert. Öffentlich äußerte sich nach dem Berliner Kongreß dagegen erstmals der CSU-Generalsekretär. Markus Söder warnte die Schwesterpartei vor einem "Linksruck". Söder griff besonders seinen CDU-Amtskollegen Ronald Pofalla und Familienministerin Ursula von der Leyen an, die sich für eine Einschränkung des steuerlichen Ehegattensplitting stark machen.

Dahinter steckt mehr als nur die Änderung eines Steuerparagraphen. Der Staat, der sich nach der Definition der Bürgerlichen bisher aus der Familie und der Art, wie sie ihre häusliche Aufgabenteilung regelt, heraushalten soll, soll nach dem Verständnis von Pofalla und von der Leyen nur noch Kinder fördern und die erwachsenen Familienmitglieder in die Arbeitswelt zwingen. Die Kinder können dann in die Krippe oder Kita - ein Modell, das einem aus der DDR noch bekannt ist. Söder warnt: Die Union werde ihre Stammwähler nicht halten können, wenn sie hier das Feld räume und versuchen wolle, sich für neue Wählerschichten zu öffnen.

CSU warnt vor Linksruck

Bayerische Parteistrategen haben herausgefunden, daß die Versuche von Pofalla und anderen, der CDU zu neuen Wählergruppen zu verhelfen, völlig gescheitert sind. Sogenannte neue gesellschaftliche Gruppen wie Homosexuelle hat die Union nicht erreicht. In Bezirken mit vielen Ausländern mit deutschem Paß und Wahlrecht führt die CDU ein Schattendasein.

Das droht ihr allerdings in Zukunft auch in ländlich-katholischen Gebieten, wo die Bürger massiv in die Wahlenthaltung flüchten. NPD oder Republikaner wollen diese Leute nicht wählen, CDU aber auch nicht mehr. "Ein Linksruck ist mit der CSU nicht zu machen", so Söder. Er will seiner Partei weiterhin eine "liberal-konservative" Grundrichtung bewahren. Man habe nichts gegen schwule Lebensgemeinschaften oder Leute, die sich tapfer als Singles durch Leben schlagen wollen. Aber das Gesellschaftsbild der CSU sei ein anderes und solle auch so bleiben.

Allerdings ist auch in Bayern bekannt, daß ein weiteres Siechen der CDU nicht am Weißwurstäquator endet, sondern die CSU infizieren könnte, so sehr sie sich auch abgrenzt. Es bleibt fraglich, ob die Kraft der CSU reicht, die Schwesterpartei zum Umsteuern zu bringen. Das würde ja nicht anderes heißen, als daß die CDU ihre Leipziger Parteitagsbeschlüsse mit der Abkehr vom Solidarprinzip und dem neuen Prinzip der Schutzlosigkeit des Einzelnen vor der Globalisierung (was fälschlich als mehr Eigenverantwortung angepriesen wird) zurücknehmen müßte. Dies ist kaum anzunehmen.

Wie sehr es in der Partei gärt, zeigte ein Vorgang auf dem Berliner Kongreß. Delegierte forderten in einem Forum zur Wirtschaftspolitik, daß man ihnen endlich Rederecht geben solle. Pofalla mußte herbeieilen, den Aufstand eindämmen und klarstellen, daß Diskussionen und Wortmeldungen der Basis unerwünscht sind. Kann eine Partei tiefer sinken?

CDU-Chefin Angela Merkel auf dem Grundsatzkongreß ihrer Partei: Durch die Union geht ein Riß


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen