© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/06 25. August 2006

"Ich muß meine Sachen fertigmachen"
Die Außenwelt empfand er als lästig, modern ist er geblieben: Gottfried Benn verachtete kulturelle Anarchie
Werner Riedel

"Was der politische Mensch gar nicht sehn kann, das ist Einsamkeit, Askese, Mönchstum - Kunst. Aber wenn die Menschheit das nicht hätte, wäre sie keine."

Gottfried Benn, "Doppelleben", 1950

In seiner Rede auf Gottfried Benn zu dessen 70. Geburtstag am 2. Mai 1956 konnte Hans E. Holthusen gleich im ersten Satz mit Genugtuung feststellen: "Ein Werk, das mit soviel Rücksichtslosigkeit gegen den Geist des öffentlichen Lebens geschaffen worden ist - und nun hat es zu später Stunde doch auch noch die Öffentlichkeit für sich gewonnen."

Einige rednerische Atemzüge weiter folgt das sehr persönliche wie auch provokante Bekenntnis des Laudators: "Es scheint mir vielmehr der rechte Augenblick zu sein, daß sich einmal einer mit Nachdruck dazu bekennt, daß es ein Glück ist, ihn zu lesen. Dies Geständnis scheint angebracht, ja notwendig in einer Gegenwart, die das gesellschaftliche Nützliche so maßlos überschätzt, ja vergötzt und jeden einzelnen mit ihren soziologischen Zwangsvorstellungen kujonieren will." Es war die letzte große öffentliche Ehrung für Benn, der wenige Wochen später, am 7. Juli 1956, in Berlin starb.

Er schien vorbereitet. In "Was schlimm ist", einem Gedicht aus den letzten Lebensjahren, heißt es: "Am schlimmsten:/ nicht im Sommer sterben,/ wenn alles hell ist/ und die Erde für Spaten leicht."

Zu Ehren und (teilweise geradezu rauschhafter) Anerkennung - er wurde en passant als Nobelpreisanwärter gehandelt - war er gekommen, dieser Gottfried Benn, der als Dr. med. lange Jahre hauptberuflich und damit halbwegs existenzsichernd als niedergelassener Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten praktizierte.

Ein Gedenken an Gottfried Benn, ein Nachdenken über seine Wirkung nach 1945, ist ohne die Erwähnung seines deutschen Verlegers Max Niedermayer unvollständig. Dessen Wiesbadener Limes Verlag hatte sich ab 1949, nach leichten Querelen mit Peter Schifferli vom Arche Verlag, die Rechte an Benns Werken gesichert. In kurzen Abständen folgten zahlreiche Veröffentlichungen. Ausdruck und Stil, Form und Ästhetik - also Kunst -, erlebten in diesen existentiell schweren Nachkriegs- und Trümmerjahren, zur Vollendung gebracht von einem Autor deutscher Sprache, der im geschundenen Berlin lebte, in einem geistig ausgehungerten Land, das in zwölf Jahren Tausendjähriges Reich auf das flachste Niveau seiner Geschichte abgestürzt war, und dessen erster internationaler Ruhm in den zwanziger Jahren lange zurücklag, eine beglückende Renaissance. Die schreibheftgroßen Bändchen der fünfziger Jahre, um 40 bis 50 Seiten, erreichten kaum für möglich gehaltene Auflagen, und das bei einem durchaus "schwierigen" Autor wie Benn. Ohne Euphorie darf das als eine verlegerische Jahrhundertleistung bezeichnet werden; ein Glücksfall für die deutsche Literatur- und Verlagsgeschichte nach 1945.

Einsames Ringen um den lyrischen Ausdruck

Max Niedermayer war es, der in diesen frühen Aufbruchsjahren mit Mut und Risikobereitschaft und einer Begeisterung aus innerster Überzeugung Benn wieder "unter die Leser" brachte.

"Drei alte Männer", Gespräche (1949), "Probleme der Lyrik" (1951), "Fragmente", Gedichte (1951), "Die Stimme hinter dem Vorhang" (1952) mit der zärtlich-poetischen Widmung für seine dritte Frau (die beiden ersten Ehefrauen waren früh verstorben), die Zahnärztin Ilse Kaul, die Benn im Dezember 1946 geheiratet hatte und die ihn um fast vier Jahrzehnte überleben sollte: "Gewidmet meiner Frau,/ eine Generation jünger als ich,/ die mit zarter und kluger Hand/ die Stunden und die Schritte/ und in den Vasen die Astern ordnet."

Es folgten "Destillationen", Gedichte (1953), "Altern als Problem für Künstler" (1954), "Aprèslude", Gedichte (1955) und zusammen mit Reinhold Schneider "Soll die Dichtung das Leben bessern?" (1956). Zwischen 1959 und 1961 erschien bei Limes die erste vierbändige Ausgabe der "Gesammelten Werke", herausgegeben von Dieter Wellershoff, mit Unterstützung der Akademie der Künste in Berlin.

Die monologische Kunst des Dichters war nicht kompatibel mit dem öffentlichen Gewäsch literarischer oder ideologischer Moden. Der Rückzug aus dem sogenannten "Gesellschaftlichen" war Benns gepflegteste Verteidigung. "Ich muß meine Sachen fertigmachen", das war sein Credo gegenüber der als lästig empfundenen Außenwelt: "Sehr schlimm: eingeladen sein,/ wenn zu Hause die Räume stiller,/ der Café besser/ und keine Unterhaltung nötig ist." (aus: "Was schlimm ist")

Oder die Selbsteinschätzung in seiner Autobiographie "Doppelleben": "Unterhaltlich bin ich kein Matador, ging nie auf Feten (...)". In den szenischen Gesprächen "Drei alte Männer" läßt Benn den Gastgeber, zweifellos er selbst, sagen: "Sie kennen meine Definition vom Menschen: ganz nett, aber sie bleiben alle zu lange, sie sagen einen Moment, und dann nisten sie sich ein."

Für ihn kam Kunst nicht durch die Hintertür feudaler Salons oder - wie heute - aus edel hochmanipulierten Bestsellern, der Trend, das "gut Gemeinte" war seine Sache nicht. Jede Zeit liebt ihren Kitsch, aber Kitsch ist selten Kunst. Er hat die Bequemlichkeit vermieden, sich auf dem Jahrmarkt des eigenen Zeitalters künstlich in Szene zu setzen. Die Außenwelt, die Öffentlichkeit abzulehnen, ist das Privileg des geistigen Menschen. Für Benn galt das Wagnis: Nur Form und Stil drücken die Größe der Person aus.

Benn - verwundbar, zurückgezogen während vieler Jahre, allein, auch einsam, zeitweilig ein Leben ohne Resonanz im Tümpel der Geschichte - hatte sich nach dem Krieg mit seinem berühmten "Berliner Brief" vom Sommer 1948 an die Monatsschrift Merkur vehement zurückgemeldet; und er schreibt polternd und schroff Klartext, läßt keine Kumpanei, keine Synthese, keine unklaren Standpunkte zu, er lehnt "die Öffentlichkeit" schlichtweg als indifferent und muffig ab: "Der Ruhm hat keine weißen Flügel, sagt Balzac; aber wenn man wie ich die letzten fünfzehn Jahre lang von den Nazis als Schwein, von den Kommunisten als Trottel, von den Demokraten als geistig Prostituierter, von den Emigranten als Renegat, von den Religiösen als pathologischer Nihilist öffentlich bezeichnet wird, ist man nicht so scharf darauf, wieder in diese Öffentlichkeit einzudringen. Dies um so weniger, wenn man sich dieser Öffentlichkeit innerlich nicht verbunden fühlt."

Das Ringen um den lyrischen Ausdruck, diese "sechs bis acht vollendeten Gedichte", beschrieb Benn 1951 in seinem Vortrag "Probleme der Lyrik" mit "dreißig bis fünfzig Jahre Askese, Leiden und Kampf". Man fühlt sich an Rilke erinnert: Nur das, was dem Menschen schwerfällt, bringt ihn weiter.

Das Gedicht "Einsamer Nie -" steht exemplarisch für vollendete Strophenstrenge und Sprachrhythmus: "Einsamer nie als im August:/ Erfüllungsstunde - im Gelände/ die roten und die goldenen Brände/ doch wo ist deiner Gärten Lust?// Die Seen hell, die Himmel weich,/ die Äcker rein und glänzen leise,/ doch wo sind Sieg und Siegsbeweise/ aus dem von dir vertretenen Reich?// Wo alles sich durch Glück beweist/ und tauscht den Blick und tauscht die Ringe/ im Weingeruch, im Rausch der Dinge -:/ dienst du dem Gegenglück, dem Geist."

In seiner Totenrede für Gottfried Benn wird Clemens Graf Podewils später sagen: "Rhythmus war das Gesetz seiner Dichtung."

Aber auch burschikos-schnodderig, lakonisch-herb konnte der Lyriker Benn mit "seinem" Jahrhundert und den immer wieder neu aufgelegten "glücksverheißenden Zukunftsträumen" (Holt-husen) umgehen. So in dem Gedicht "Eure Etüden": "Das Krächzen der Raben/ ist auch ein Stück -/ dumm sein und Arbeit haben:/ das ist das Glück.// Das Sakramentale -/ schön, wer es hört und sieht,/ doch Hunde, Schakale/ die haben auch ihr Lied."

Oder mit den Zeilen aus "Was schlimm ist": "Einen neuen Gedanken haben,/ den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,/ wie es die Professoren tun."

Melancholie vor der Leere und Zerrissenheit

Er war eben auch ein Beißer, ein böser Spötter, ein Radikaler sowieso, der Dr. Benn, der seiner Zeit hochmütig-distanziert, den Niederungen des Sozialen wenig zugewandt, aggressive Diagnosen stellte, bei allem gewöhnlichen Harmoniebedürfnis, wenn es um Alltag und häuslichen Frieden ging.

Seine betörende, den Leser fast schon - unter Ausblendung der geistig-ästhetischen Dimension - in Rausch und Hypnose versetzende, alle Stilmittel der Moderne beherrschende Ausdruckskunst war die Antwort des unbehausten Menschen auf die Zerrissenheit des 20. Jahrhunderts, der Zeit, in der Benn lebte und auch irrte, als er 1933 die in Deutschland angebrochene "neue Zeit" fast distanzlos begrüßte.

Obwohl sehr bald gründlich korrigiert, war dieser kurzfristige Fehltritt ins Reich des Politischen später Anlaß für heftiges Nachgrollen seiner literarischen Gegner. Kontroversen wurden geführt, die wegen ihrer Niveaulosigkeit auf seiten der Attackierenden nicht immer wirklich welche waren. "Kollektivliteraten" nannte Benn die meist aus dem links-sozialistischen Lager kommenden "Ankläger", zum Beispiel Johannes R. Becher, von denen er sich "dreist öffentlich angerempelt" fühlte. "Man wollte mit ihm auch einen ganz bestimmten Typ von Künstler dauerhaft ins Unrecht setzen: den introvertierten Poeten, der sich aus dem Aktuellen heraushält, weil seine Ausrichtung seinshaft-final und nicht historisierend-utopisch ist" (Hans-Jürgen Heise).

In der Einleitung zu W. H. Audens pessimistischer Vers- und Prosadichtung "Das Zeitalter der Angst" (dt. 1951) konstatierte Benn "eine fundamentale Melancholie vor der panischen Leere und Zerrissenheit des inneren Menschen von heute". Diese Aussage war vor dem Hintergrund der Sinnentleerung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewiß nicht sensationell, sie war vielmehr angesichts der geistigen Katastrophe und des geschichtlichen Verfalls auf allen weltgesellschaftlichen Ebenen unabdingbar.

In seinem bewundernswerten Benn-Essay schrieb Heinz Friedrich 1976 über Benns Epochen-Modernität: "Die melancholische Betroffenheit eines Endzeitalter- Bürgers wird darin ebenso poetisch manifest wie jene fast schon snobistische Lässigkeit, hinter der sich die große Trauer um den Zerfall der menschlichen Wirklichkeit und Welt verbirgt." Die Kongruenz zur heutigen Zeit mit ihrer längst wieder aufgebrochenen kulturellen Anarchie ist kaum zu übersehen, beängstigend ist sie allemal, unumkehrbar wahrscheinlich auch. Das häufig im überschwenglichen, ideologisch verbrämten Fortschrittsglauben verirrte Zoon politikon hielt Benn für eine Fehlbesetzung, seine Verachtung war tief, seine Ablehnung unmißverständlich.

Hans-Jürgen Heise sah bereits 1985 den Grund für die wieder zunehmende Beachtung Benns im "Bedeutungsrückgang der marxistischen Theorie, die - ebenso wie die kapitalistische Praxis, bloß mit zusätzlichem Ideologieüberbau - Hoffnungen auf die Erfüllbarkeit aller Wünsche im Bereich des Geschichtlichen und Gesellschaftlichen erweckt hatte. Die Hinwendung zu Benn steht in direktem Zusammenhang mit dem ökologischen Krisenbewußtsein, das den (eng an materialistische Wachstumsvorstellungen gebundenen) Utopiebegriff in wenigen Jahren zur Fata Morgana hat werden lassen" (aus: "Ein armer Hirnhund namens Benn").

Heises Ausdeutung der Benn'schen Innenwelt zwanzig Jahre später betrachtet ist angesichts der nur noch rein rituellen Modernität unserer Tage, in denen Fortschritt, obwohl inzwischen fast frei von Utopiegaukeleien, zur bloßen Leerformel verkommt, von erschreckender Hellsichtigkeit und schonungsloser, brutaler Klarheit. Gäbe es den Begriff der "Schein"-Modernität: Die Gegenwart müßte daran ersticken.

Die "existentielle Bezüglichkeit" Benn'scher Gedankenwelt aufnehmend, die heute ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegt, schrieb Heise: "Benns Innenschau war seine persönliche Antwort auf die äußere Verflachung. Die moderne Welt hatte sich unversehens in einen Riesensteinbruch krasser materialistischer Ausbeutung verwandelt. Alles war zum Objekt von Gewinnsucht und fadem Glücksstreben geworden."

Vor fünfzig Jahren gestorben, ist Benn, scharf und rücksichtslos im Denken abseits aller Moden von rechts oder links, bis heute ein zeitlos Moderner für die Gegenwart.

Foto: Gottfried Benn (1886-1956): Seine Dichtkunst war nicht kompatibel mit dem öffentlichen Gewäsch

Benn-Finissage

Mit einer Finissage endet am kommenden Sonntag (27. August) die Gottfried-Benn-Ausstellung "Doppelleben", die seit dem 7. Juli anläßlich Benns 50. Todestag im Marbacher Literaturmuseum der Moderne gezeigt wurde. Als Gäste angekündigt sind der Benn-Biograph Gunnar Decker und der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit, die sich über das Verhältnis des Dichters zu Nietzsche austauschen wollen. Beginn: 19 Uhr. Der Eintritt kostet 5 Euro, ermäßigt 3 Euro. (JF)

 

Werner Riedel, Jahrgang 1940, Germanist und Literaturwissenschaftler, hat unter anderem als Lektor in einem Fachzeitschriftenverlag gearbeitet.


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