© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/06 25. August 2006

Die Ohnmacht der Vereinten Nationen
Libanon-Krieg II: Die Uno veranschaulichte erneut die Diskrepanz zwischen Diskussion und politischer Wirklichkeit / So stark, wie die Veto-Mächte es zulassen
Alain de Benoist

Kaum hatte der Uno-Sicherheitsrat am 11. August in New York einstimmig die Resolution 1701 zur "Einstellung der Feindseligkeiten" im Libanon verabschiedet, da äußerte Javier Solana als höchster Repräsentant der EU-Außenpolitik schon Skepsis: "Es genügt nicht, daß der Resolution zugestimmt wird. Wichtiger ist, daß sie umgesetzt wird." US-Außenministerin Condoleezza Rice wiederum warnte, "niemand darf ein sofortiges Ende aller Gewalttaten erwarten".

Uno-Generalsekretär Kofi Annan erklärte sich "zutiefst enttäuscht", daß der Sicherheitsrat nicht "sehr viel eher" eingriff. Denn schon am 25. Juli kamen vier militärische Beobachter der Uno bei einem israelischen Angriff ums Leben. Annan sprach damals von einer "offensichtlichen Absicht" - ein schlechtes Vorzeichen.

Insgesamt haben die letzten Wochen einmal mehr gezeigt, wie ohnmächtig die Vereinten Nationen sind. In der Krise befindet sich die Uno freilich seit langem, und erst recht seit dem Untergang des kommunistischen Sowjetsystems, mit dem auch die Bipolarität der Weltordnung von Jalta ein Ende fand.

In ihrem Sicherheitsrat haben weder der drittgrößte Beitragzahler Deutschland noch die Wirtschaftssupermacht Japan, weder das Milliarden-Einwohner-Land Indien noch Brasilien als größter lateinamerikanischer Staat einen Sitz, obwohl das Gremium die weltweit wichtigsten Mächte vertreten soll. Die Nachkriegszeit liegt mittlerweile endgültig hinter uns, doch der Sicherheitsrat besteht weiterhin aus den Siegern von 1945.

Seit Jahren scheitert die Uno an dem Bemühen, sich zu reformieren. Schon der Grundsatz, auf dem sie beruht, steht zur Disposition. Wozu ist die Uno da? Was ist das Wesen dieser Organisation? Welche Autorität steht ihr zu? Sicherlich bildet sie einen Treffpunkt und ein Diskussionsforum für Vertreter verschiedener Staaten. Doch sie können noch soviel reden, zu Entscheidungen gelangen sie nicht - und erst recht nicht dazu, einmal gefällte Entscheidungen durchzusetzen.

Verpflichtende Resolutionen auf freiwilliger Basis

Die Uno veranschaulicht perfekt die Diskrepanz zwischen ewiger Diskussion und politischer Wirklichkeit und beweist zugleich indirekt, daß die vom deutschen Philosophen Jürgen Habermas so geschätzte "Kommunikationsethik" zu nichts führt. Der Begriff der "internationalen Gemeinschaft", der sich in den Mediendiskurs eingeschlichen hat, findet keinerlei Entsprechung in der Realität. Zumeist ist er nicht mehr als eine Floskel, derer sich die westlichen Großmächte bedienen, wenn es ihnen gelegen kommt, um sich mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die wohl über 1,3 Milliarden Gläubige zählende starke muslimische Gemeinschaft, um nur sie zu nennen, hat daran offenkundig keinen Anteil.

Verpflichtend sind Uno-Resolutionen nur auf freiwilliger Basis. Daß die Uno seine Atomwaffentests verurteilt, hindert das Regime in Nordkorea nicht daran, sie ohne Hemmungen fortzusetzen. Israel hat ebenfalls unzählige Weisungen und Resolutionen ignoriert. Die USA machen keinen Hehl daraus, wie wenig Bedeutung sie der Uno zumessen. Die Invasion und Besetzung des Irak erfolgte ohne ein Mandat der Organisation.

Das hindert sie im Gegenzug nicht daran, ihren Einfluß geltend zu machen. Nachdem Washington im Uno-Sicherheitsrat eine Resolution durchgesetzt hatte, die das Massaker von Kana, wo am 31. Juli bei einem israelischen Luftangriff 28 Zivilisten umkamen, "bedauert", statt es zu verurteilen, zögerte es die Verabschiedung eines Textes zur Waffenruhe so lange wie möglich hinaus, um seinem Verbündeten Israel die Möglichkeit zu geben, seine Offensive zu verlängern.

Die jetzige Libanon-Krise veranschaulicht auf tragische Weise, daß das Recht alleine nicht regieren kann. Wenn es keine Streitkräfte hinter sich hat, die seine Durchsetzung gewährleisten, besteht es nur aus leeren Worten. Die Autorität der Vereinten Nationen reicht somit nur so weit, wie die jeweiligen Staaten es zulassen. Die Uno will Entscheidungen treffen, die politische Wirkungen haben, aber sie hat weder den Charakter noch die Legitimität einer politischen Einheit.

Zugleich erleben wir eine beängstigende Entwicklung des Völkerrechts, das sich seit der Wilson-Deklaration am Ende des Ersten Weltkriegs zunehmend von dem "nicht-diskriminierenden" Kriegsbegriff zugunsten eines "diskriminierenden" verabschiedet hat. Das bedeutet einen Bruch mit dem Postulat der juridischen Gleichheit der Kriegsparteien. Krieg gilt nicht länger als bewaffnete Auseinandersetzung zwischen "gerechten Feinden", sondern wird selber zum "gerechten Krieg": im Namen des Guten geführt gegen Feinde, die als Verkörperung des Bösen dargestellt werden, mit anderen Worten ein internationaler Polizeieinsatz gegen Verbrecher. Die Kriminalisierung des Gegners rechtfertigt jedes Mittel gegen ihn. Der angeblich im Zeichen der "Menschenrechte" geführte Krieg führt zwangsläufig dazu, den Feind aus der Menschheit auszuschließen.

Die derzeitige Weltlage nun ist mehr als beunruhigend. Zum ersten Mal droht der israelisch-arabische Konflikt sich auf die gesamte Golfregion auszuweiten. Alle Voraussetzungen sind vorhanden für eine Konfrontation mit der Islamischen Republik Iran, deren politische, wirtschaftliche und geopolitische Folgen immens wären. Der Irak versinkt Tag für Tag tiefer im Chaos.

Erste Episode eines israelisch-iranischen Krieges

In Afghanistan ist nichts geregelt. Indien und Pakistan streiten weiterhin über die Herrschaft in Kaschmir. Vom Balkan über den Kaukasus und Darfur bis zur Elfenbeinküste vervielfachen sich die ungelösten Konflikte. China hat immer noch nicht auf die Herrschaft über Taiwan (Formosa) verzichtet. Der Ölpreis erreicht mittlerweile zeitweise einen Spitzenwert von 80 Dollar pro Barrel. Keine der seit 1945 gegründeten großen internationalen Organisationen oder Strukturen scheint in der Lage, diese Konflikte zu lösen oder dieses Pulverfaß zu entschärfen.

Israels Krieg gegen den Libanon endete trotz massivsten Waffeneinsatzes derweil mit einem militärischen und politischen Mißerfolg. Im Juni 1967 brauchte die israelische Armee nur sechs Tage, um den Streitkräften Ägyptens, Jordaniens und Syriens eine vernichtende Niederlage zuzufügen und dabei das Westjordanland, die Golanhöhen und den Gazastreifen zu erobern. Knapp vier Jahrzehnte später haben sie nach einem Monat erbitterter Kämpfe im Süd-Libanon kein einziges ihrer Hauptziele erreicht. Der Krieg hat lediglich über tausend Zivilisten das Leben gekostet, Hunderttausende vertrieben und die Infrastruktur ein weiteres Mal in großen Teilen ruiniert. Im Libanon gilt Israel als "Staat, der Mauern baut und Brücken zerstört".

Und jedermann weiß, daß der jüngste Libanon-Krieg - mit der Hisbollah als Stellvertreter - nur die erste Episode des wohl bevorstehenden israelisch-iranischen Krieges ist. Verteidigungsminister Amir Perez hat angesichts der Kritik bereits eine Kommission eingesetzt, die das Vorgehen seiner Streitkräfte im Libanon-Krieg untersuchen soll. Beurteilt werden soll dabei auch, wie gut die israelischen Streitkräfte auf die jüngste Libanon-Offensive vorbereitet waren. Israel wolle dadurch herausbekommen, wo es versagt habe, "weil wir uns auf die nächste Runde vorbereiten müssen", erklärte der Sozialdemokrat vergangenen Sonntag vor dem israelischen Kabinett.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph, ist Herausgeber von "Eléments" sowie Chefredakteur von "Nouvelle Ecole" und "Krisis".


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