© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

Der größte gemeinsame Nenner
Vor 200 Jahren wurde das Heilige Römische Reich deutscher Nation aufgelöst / Der "Reichsgedanke" blieb noch lange erhalten
Karlheinz Weissmann

Im Januar 1961, wenige Monate vor dem Mauerbau, der die Teilung Restdeutschlands besiegeln sollte, veranstaltete die FDP-nahe Naumann-Stiftung eine Tagung zum Thema "Was bedeuten uns heute Volk, Nation, Reich?". Die Referenten waren bevorzugt Historiker, aber die Veranstaltung sollte kein antiquarisches Interesse befriedigen, vielmehr ging es darum, die Grundlagen eines zukunftsfähigen Gemeinwesens zu bestimmen.

Bemerkenswerterweise hatten die Veranstalter neben den naheliegenden Bezugspunkten "Volk" und "Nation" auch den des "Reiches" zur Debatte gestellt, aber die Vortragenden scheuten die Stellungnahme. Die Äußerungen der Zuhörer fielen eher negativ aus, wenn man das Thema überhaupt ansprach. Eine Ausnahme bildete Karl Otmar Freiherr von Aretin, ein Spezialist für die Geschichte des späten Reiches, der zu der überraschenden Feststellung kam: "Es gab und gibt in Deutschland eine Tradition der Garantie des Friedens, die in der deutschen Ordnung lag. Diesen Weg haben wir 1870 verlassen." Offenbar war damit gemeint, daß die Reichseinigung Bismarcks als historischer Irrtum betrachtet werden müsse, weil sie am Machtgedanken orientiert war, wohingegen das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Lage gewesen sei, heterogene Elemente wenigstens insoweit zu binden, daß keine gewaltsamen Konflikte zu befürchten waren. Es folgte - wenn auch verklausuliert - die Empfehlung, in dieser "deutschen Ordnung" ein Modell für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu sehen.

Aretins Position war für Liberale kaum akzeptabel, wohingegen sie, beschnitten um das Wohlwollen gegenüber der DDR, an anderer Stelle durchaus auf Beifall rechnen konnte. In katholisch-konservativen Kreisen besaß nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Vorstellung Einfluß, daß der mit Gründung der Bundesrepublik eingeschlagene Weg zwar grundsätzlich richtig sei, aber einer gewissen Korrektur im Weltanschaulichen bedürfe: nicht der "Westen" und nicht "Europa" sollten Orientierungspunkte sein, sondern das "Abendland". Das entsprach einer Denktradition, die seit den zwanziger und dreißiger Jahren der Vorstellung folgte, man müsse den Ausgleich mit dem - als katholische Macht vorgestellten - Frankreich suchen, um einen Kontinentalblock zu schaffen, der den Kommunismus abwehren und zum prote-stantischen Angelsachsentum ein Gegengewicht bilden konnte. Die Anhänger dieser Linie hatten sich vor dem Krieg um die Zeitschrift Abendland gesammelt, und der Titel Neues Abendland für ein im Jahr 1946 gegründetes Forum war ohne Zweifel programmatisch gemeint.

Verschiedene Vorstellungen und Ideen vom neuen Reich

Das Neue Abendland und die mit ihm verbundene Abendländische Akademie bildeten bis zum Beginn der sechziger Jahre ein wichtiges Organ der christlich-konservativen, vor allem katholischen Intelligenz, Teilen des Klerus und Funktionären der Unionsparteien. Aber dieses Bündnis war fragil und wurde vor allem durch die Feindschaft gegenüber dem Sowjetsystem und die Beharrungskraft des älteren katholischen Milieus zusammengehalten. Die Vorstöße, die ideologische Köpfe wie Emil Franzel unternahmen, um eine neue "Reichsidee" zu etablieren, besaßen niemals die notwendige Kohärenz und entwickelten nie die Anziehungskraft, die nötig gewesen wäre. Die Folge war, daß mit dem politischen Klimawechsel nach dem Mauerbau der Kreis um das "Neue Abendland" sehr rasch zerfiel. Es blieben nur noch solitäre Verfechter der katholischen Reichsidee, deren Herkunft aus der alten Donaumonarchie für sich sprach: vor allem Erik von Kuehnelt-Leddihn und Otto von Habsburg.

Das Fehlen der Faszination unterschied die Situation in der Nachkriegs- am deutlichsten von der der Zwischenkriegszeit. In den zwanziger und dreißiger Jahren hatte kaum etwas so stark auf die Gebildeten der jungen Generation gewirkt, wie die Idee des "Neuen Reiches". Es flossen dabei allerdings ganz verschiedene Vorstellungen zusammen:

- der romantische Gedanke einer spezifisch deutschen, weil auf das Mittelalter rückführbaren Staatsform, in der die Selbstorganisation von Ständen und Stämmen in einem "Hochstand" (Othmar Spann), dem Reich, harmonisch gipfeln sollte,

- die großdeutsche Idee, die zwar vor allem liberale Ursprünge hatte, aber auch sozialistische und konservative Anhänger fand,

- damit verbunden verschiedene Konzepte für eine mitteleuropäische oder gesamteuropäische Einigung,

- der im Grunde nur religiös faßbare Gedanke eines besonderen deutschen "Nomos" und einer Weltsendung, die durch die Niederlage von 1918 nicht nur nicht widerlegt, sondern bestätigt worden sei,

- schließlich das "Reich" als Chiffre für den deutschen Machtstaat, etwa in dem Sinn, wie man den "Reichspatriotismus" während der wilhelminischen Zeit aufgefaßt hatte.

Bei allen Differenzen war immerhin soviel klar, daß das Reich mehr als Volk, mehr als Nation, mehr als Staat sein sollte. Dieses Mehr-Als hatte schon 1849 die Abgeordneten der Nationalversammlung bewogen, der neuen politischen Ordnung, die man für Deutschland entwarf, die Bezeichnung "Reich" zu geben, und genauso verfuhr man 1871, nachdem der "Verein" der Für-sten und Freien Städte Kleindeutschlands einen weniger prosaischen Namen suchte. Nicht einmal die Revolutionäre von 1918/19 waren willens, darauf zu verzichten.

Die Reichsidee hatte damit aber nichts zu tun. Die gehörte zum geistigen Arsenal der "nationalen Opposition". Von der Dichtung Stefan Georges bis zum jugendbewegten Mysterienspiel vom Antichristen, von der großen Darlegung zum "sacrum imperium" des Historikers Alois Dempf über Edgar Jungs Propaganda für das "Reich" als Alternative zur "Herrschaft der Minderwertigen" bis zur nationalrevolutionären Reichsmetaphysik Friedrich Hielschers oder Ernst Jüngers reichte das Spektrum. Um Klarheit ging es dabei nur selten, eher um das Setzen eines politisch-theologischen Fernziels. Als führende Köpfe der Konservativen Revolution 1932 zu einer "Aussprache unter Deutschen" zusammenkamen, um die Frage zu beantworten, "Was ist das Reich?", zitierte man einleitend und mit unverkennbarer Zustimmung die Worte Paul de Lagardes: "Das Deutschland, welches wir lieben und zu sehen begehren, hat nie existiert und wird vielleicht nie existieren. Das Ideal ist etwas, das zugleich ist und nicht ist."

Allerdings gab es gegen solche Unschärfe auch Vorbehalte. In einem Brief Wilhelm Stapels an Carl Schmitt vom 19. Januar 1933 hieß es kritisch, "daß man den Reichsgedanken eigentlich immer nur im Sinne der Schwächung des Staates zu verwenden beliebt". Für den Protestanten Stapel überraschend, stimmte der Katholik Schmitt dieser Einschätzung zu. Beide wollten der konkreten Ordnung den Vorrang einräumen und sorgten sich, daß der Begriff "Reich" aufgrund seines schwärmerischen Gehalts ungeeignet sei, die Kräfte der Nation neu auszurichten.

In dieser Hinsicht gab es zwischen konservativen Etatisten und der nationalsozialistischen Führung eine formale Übereinstimmung. Soweit hier vom "Reich" und vom "neuen Reich" gesprochen wurde, geschah das im Sinn des Machtstaates, den es wiederzuerrichten galt. Die Mittel dazu waren ganz handfeste: Agitation der Massen, Wahlsieg, Regierungsbeteiligung, Übernahme der vollziehenden Gewalt. Allerdings gingen die Erwartungen der Anhängerschaft in bezug auf die Person Hitlers wie in bezug auf ein "Drittes Reich" weit darüber hinaus.

Der Begriff "Drittes Reich" hatte eine lange Vorgeschichte, die bis zu den Geschichtsspekulationen des Joachim von Fiore im 13. Jahrhundert zurückreichte. Wichtiger war aber, daß er sich im Sinn konservativ-revolutionärer Zukunftserwartung bei Autoren wie Thomas Mann und Eugen Diederichs fand, und dann vor allem von Moeller van den Bruck aufgenommen wurde. Bekanntermaßen wollte Moeller sein 1923 unter dem Titel "Das dritte Reich" erschienenes Buch ursprünglich "Die dritte Position" nennen, womit die konservativ-revolutionäre gegenüber der reaktionären und der liberalen abgegrenzt worden wäre. Das "dritte Reich" war insofern als Synthese aus Bewahrung und Veränderung gedacht, eine Idee, die in Deutschland eine lange Tradition hatte, aber bei Erscheinen des Buches kaum auf Begeisterung stieß. Das änderte sich mit dem Niedergang der Republik. Vor allem unter den Nationalrevolutionären verbreitete sich Ende der zwanziger Jahre die Parole vom "Dritten Reich". Dabei hatte sich der Akzent aber deutlich verschoben: man verstand darunter jetzt nicht mehr eine neue Ordnung im Metapolitischen, sondern eine neue Ordnung im Politischen, die nach dem Ersten, dem Heiligen Römischen, dem Zweiten, dem Bismarckreich, und dem "Zwischenreich", das heißt dem Weimarer Staat, endlich das "Dritte Reich" bringen werde.

Die Konjunktur ließ die Nationalsozialisten nicht unbeeindruckt, was vor allem Joseph Goebbels als Chef der Parteipropaganda dazu brachte, den Slogan aufzugreifen und in sein Repertoire zu übernehmen und der nationalsozialistischen Ideologie anzupassen. Nach der Machtübernahme wurde er praktisch wie eine offizielle Bezeichnung für das neue System verwendet. Allerdings hat der inflationäre Gebrauch rasch zur Abnutzung geführt, und auch den Spott der heimlichen Gegner gereizt, was wahrscheinlich erklärt, warum das Propagandaministerium am 10. Juli 1939 die Verwendung ausdrücklich untersagte. Davon blieb der Staatsname "Deutsches Reich", nach dem Anschluß Österreichs "Großdeutsches Reich" unberührt, aber in einer Erklärung vom 21. März 1942 ließ Goebbels verlautbaren, zukünftig werde es nur noch "Das Reich" heißen, so wie in Großbritannien vom "empire" gesprochen werde, ohne zusätzliches Attribut.

Das entsprach ganz der Auffassung Hitlers, der den Begriff "Drittes Reich" gemieden hatte und eine Auffassung des "Reiches" vertrat, die nichts mit der romantischen oder konservativen Denk-tradition zu tun hatte, dafür aber deutlich am angelsächsischen Vorbild orientiert war. Auch aus diesem Grund dürfte er an der Debatte um die "Reichsidee" während der dreißiger Jahre kaum interessiert gewesen sein. Der von ihm angestrebte "Großraum" sollte durch geostrategische Notwendigkeit und rassische Einheit und insofern auf Grund objektiver Gegebenheiten definiert sein. Er bedurfte keiner "Idee".

Das Potential für ein Reich ging längst verloren

Ein Problem, auf das Carl Schmitt, wenn auch verklausuliert, so doch mit Deutlichkeit hinwies, als er das "Reich" 1941 in der vierten Auflage seiner Untersuchung Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte bestimmte als: der "über Volksboden und Staatsgebiet hinausgreifende Großraum kultureller und wirtschaftlich-industriell-organisatorischer Ausstrahlung". Mit dem elastischen Begriff "Ausstrahlung" wollte Schmitt deutlich machen, daß zur Beherrschung eines Reiches ein Volk nicht nur einen Kernstaat braucht, der sich ökonomisch, diplomatisch und militärisch über seine Grenzen hinaus zur Geltung bringen kann, sondern auch, daß es auf etwas zurückgreifen können muß, das seine Macht den Beherrschten legitim erscheinen läßt. Das war als Mahnung an Hitler zu verstehen, der sie aber nicht gehört hat, - auch das ein Faktor, der zu seinem und dem Untergang des Reiches beitrug.

Man könnte über diesen Sachverhalt ebenso hinweggehen wie über die "Reichsidee" selbst, indem man darauf verweist, daß die Deutschen das Potential längst verloren haben, sich ein Reich zu schaffen, sei es nun von dieser oder nicht von dieser Welt. Wenn der Begriff jenseits nostalgischer Bemerkungen eine Rolle in den politischen Debatten der letzten drei Jahrzehnte spielte, dann im Sinn einer Abfindungsformel, um Machtlosigkeit zu kaschieren oder die Wiedervereinigung zu hintertreiben. Aber die historische Entwicklung ist immer wieder für Überraschungen gut. So erleben wir, daß nach einer Phase, in der die Zweiteilung der Welt und das Vorhandensein von "Supermächten" das historische Geschehen außer Kraft gesetzt zu haben schien und es dann so aussah, als ob die "eine Welt" in greifbare Nähe gerückt sei, nun ältere Muster des Staatensystems wiederkehren. Der Affekt, mit dem gerade noch von "Imperien" und "Imperialismus" gesprochen wurde, hat sich verflüchtigt. Eine neue Nüchternheit im Umgang mit politischen Tatsachen bereitet sich vor, und zu diesen Tatsachen gehört auch das Vorhandensein von "Reichen". Die politische Klasse diskutiert schon die Notwendigkeit oder die wohltuende Wirkung von Imperien, ihre Berater befassen sich mit Regeln, nach denen sie aufsteigen oder untergehen. Vielleicht wird man sich morgen wieder fragen, welcher geistigen Haltung es bedarf, um ein Reich zu gründen. Dann wird die Aufmerksamkeit zwangsläufig zurückgelenkt auf "Reichsideen".

Foto: Reichskrone: Um 962 für Kaiser Otto den Großen angefertigt, krönte sie deutsche Könige und Kaiser bis 1792

 

Stichwort: Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im August 1806

Am 2. Februar 1804 krönte sich Napoleon zum Kaiser der Franzosen. Mit dieser Erhöhung wollte er einerseits seine Macht festigen, andererseits seine Größe noch deutlicher sichtbar machen. Vor allem wollte er das Erbe Karls des Großen antreten und somit seinem erblichen Kaisertum eine in der Tradition des Mittelalters stehende Legitimation verschaffen. Zu diesem Zweck reiste Napoleon im September 1804 nach Aachen und besuchte den Dom und das Grab Karls des Großen.

Nach dem Sieg der Franzosen am 2. Dezember 1805 bei Austerlitz über Russen und Österreicher wurde bereits das Ende des Reiches endgültig besiegelt, da Napoleon im Frieden von Preßburg durchsetzte, daß Bayern, Württemberg und Baden mit voller Souveränität ausgestattet wurden und somit mit Preußen und Österreich gleichgestellt wurden. Diese Länder befanden sich nun faktisch außerhalb der Reichsverfassung. Dies äußerte Napoleons gegenüber seinem Außenminister Talleyrand: "Es wird keinen Reichstag mehr geben; denn Regensburg soll Bayern gehören; es wird auch kein Deutsches Reich mehr geben."

Am 12. Juli 1806 gründeten Kurmainz, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Nassau, Kleve-Berg und weitere Fürstentümer mit Unterzeichnung der Rheinbundakte in Paris den Rheinbund, als dessen Protektor Napoleon fungierte, und erklärten am 1. August den Austritt aus dem Reich. Das Reich hatte faktisch aufgehört zu existieren, denn von ihm blieb nur noch ein Torso übrig. Die Entscheidung, ob der Kaiser die Reichskrone niederlegen sollte, wurde durch ein Ultimatum vom 22. Juli 1806 an den österreichischen Gesandten in Paris, General Vincent, praktisch vorweggenommen. Sollte Kaiser Franz bis zum 10. August nicht abdanken, dann würden französische Truppen Österreich angreifen.

Am 30. Juli entschied sich Franz, auf die Krone zu verzichten; am 1. August erschien der französische Gesandte La Rochefoucauld in der österreichischen Staatskanzlei. Erst nachdem der Gesandte nach heftigen Auseinandersetzungen mit Graf von Stadion formell bestätigte, daß sich Napoleon niemals die Reichskrone aufsetzen werde und die Unabhängigkeit Österreichs respektiere, willigte der österreichische Außenminister in die Abdankung ein, die am 6. August verkündet wurde. (JF)


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