© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

Verheerende Wirkung
Abtreibung: Bei der Frage der Rechtswidrigkeit der Tötung Ungeborener widerspricht sich das Bundesverfassungsgerich
Bernward Büchner

Die Erste Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich eine Position abgesegnet, die der Zweite Senat desselben Gerichts in seinem Abtreibungsurteil von 1993 noch als verfassungswidrig verworfen hatte. Der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung durch einen Arzt innerhalb von zwölf Wochen seit der Empfängnis, so das damalige Urteil, dürfe nicht wie zu jener Zeit im Schwangeren- und Familienhilfegesetz für "nicht rechtswidrig" erklärt werden.

Anstelle der insoweit für nichtig erklärten Vorschrift ordneten die Richter damals übergangsweise an, Paragraph 218 des Strafgesetzbuches finde in den Fällen der Beratungsregelung "keine Anwendung". Sie fügten den Satz hinzu: "Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs bleibt in diesen Fällen unberührt." In der Begründung der Richter wurde dieses Verbot aus der Verfassung abgeleitet und ausdrücklich als "verfassungsrechtliches Verbot" bezeichnet. Es müsse in den Gesetzen unterhalb der Verfassung bestätigt und verdeutlicht werden, wenn nicht im Strafgesetzbuch, dann an anderer Stelle.

Das sei unerläßlich, um das Bewußtsein von Recht oder Unrecht zu stärken. Ohne dieses Bewußtsein könne das Beratungskonzept einen Lebensschutz Ungeborener nicht bewirken. Seither ist vielfach davon die Rede, nach bescheinigter Beratung abzutreiben, sei "rechtswidrig, aber straffrei". Diese Formel ist unverändert in Gebrauch, seit es im derzeit geltenden Gesetz heißt, der Tatbestand des Paragraphen 218 sei unter den Voraussetzungen der Beratungsregelung "nicht verwirklicht".

Findet der Paragraph 218 keine Anwendung oder ist sein Tatbestand nicht verwirklicht, fehlt es insoweit an einem strafrechtlichen Verbot. Es bleibt aber bei dem verfassungsrechtlichen Verbot, unabhängig davon, ob dieses im Gesetz bestätigt und verdeutlicht wird. So jedenfalls nach der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes von 1993.

Umgangssprachliche Bedeutung des Begriffes

Ganz anders die Erste Kammer des Ersten Senats in ihrem Beschluß vom 24. Mai 2006 (1 BvR 1060/02). In dem betreffenden Fall hatte ein Lebensschützer unter Berufung auf die Meinungsfreiheit Verfassungsbeschwerde gegen seine zivilgerichtliche Verurteilung erhoben, die auf einem Flugblatt aufgestellte Behauptung zu unterlassen, der klagende Arzt führe in seiner Praxis "rechtswidrige Abtreibungen" durch. Die Verfassungsbeschwerde wurde erst gar nicht zur Entscheidung angenommen.

Die untersagte Behauptung, heißt es in den Gründen, sei "unwahr". Denn die Schwangerschaftsabbrüche durch jenen Arzt erfolgten unstreitig unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen. Als maßgeblich zugrunde gelegt wurde dabei die umgangssprachliche Bedeutung des Begriffs der rechtswidrigen Abtreibung. Danach sei "rechtswidrig" und "verboten" nur eine strafbare Abtreibung.

Wie selbstverständlich geht die Kammer des höchsten deutschen Gerichtes hier davon aus, daß nach dem in der Umgangssprache zum Ausdruck kommenden Bewußtsein der Menschen nur eine strafbare Abtreibung rechtswidrig und verboten ist, eine nicht strafbare also stets rechtmäßig und erlaubt. Ein verfassungsrechtliches Abtreibungsverbot, ob im Gesetz bestätigt und verdeutlicht oder nicht, gibt es für die drei an dem Beschluß beteiligt gewesenen Karlsruher Richter des Ersten Senats entweder gar nicht oder es ist nach ihrer Auffassung für Bewußtsein und Umgangssprache jedenfalls nicht relevant, ganz im Gegensatz zur Sichtweise des Zweiten Senats, dessen Urteil von 1993 in dem Beschluß noch nicht einmal zitiert wird, von einer Auseinandersetzung hiermit ganz zu schweigen. Die aus diesem Urteil abgeleitete Formel "rechtswidrig, aber straffrei" wird zur Lüge erklärt, deren Gebrauch womöglich gerichtlich untersagt werden kann.

Folgen für die Rechtssicherheit

Ein derartiges Ignorieren der Rechtsprechung des einen Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den anderen dürfte ohne Beispiel sein. Wenn beide Senate des Verfassungsgerichtes einander in einer zentralen und für den Schutzeffekt des gesetzlichen Beratungskonzepts so relevanten Frage wie der nach der Rechtswidrigkeit der Tötung Ungeborener widersprechen, ist das für die Rechtssicherheit und das Rechtsbewußtsein verheerend.

 

Bernward Büchner ist Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht a. D. und Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V. mit Sitz in Köln.


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