© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

Strafrecht durch die Hintertür
Gesetzgebung: Der vom Bundesverfassungsgericht gekippte Europäische Haftbefehl erhält eine neue Chance / Wenige Änderungen
Georg Pfeiffer

Das erste Gesetz zum Europäischen Haftbefehl, mit dem Deutsche in andere EU-Staaten ausgeliefert werden können, war am 11. März 2004 erlassen worden. Das Bundesverfassungsgericht erklärte es bei der ersten sich bietenden Gelegenheit für null und nichtig (JF 30/05). Dabei rügte es, der Gesetzgeber habe den Spielraum für eine "grundrechtschonende" Gestaltung nicht genutzt und sei seiner besonderen Schutzpflicht für alle Deutschen nicht nachgekommen. Jetzt ist das Gesetz, mit Änderungen, erneut auf den Weg gebracht worden.

Die Neuerungen beschränken sich auf drei Paragraphen. Vor der Bewilligung der Auslieferung entscheidet das Oberlandesgericht über die Zulässigkeit des Auslieferungsersuchens. Diese Entscheidung über die Zulässigkeit unterliegt der gerichtlichen Nachprüfung. Bei der Bewilligung selbst entscheidet die Staatsanwaltschaft "nach pflichtgemäßem Ermessen mit einem auch außenpolitischen Erwägungen zugänglichen Spielraum". Ein Deutscher darf nur noch ausgeliefert werden, wenn die ihm vorgeworfene Tat einen "wesentlichen Bezug" zu dem Verfolgerstaat hat. An einen "Drittstaat" darf er nur ausgeliefert werden, wenn sie keinen wesentlichen Bezug zum Inland hat. In diesem Fall wird auch geprüft, ob die Tat auch in Deutschland strafbar wäre. Außerdem ist in diesem Fall eine "Abwägung der widerstreitenden Interessen" anzustellen. Schließlich muß in allen Fällen die Rücküberstellung des Verfolgten zur Strafvollstreckung sichergestellt sein. Ausländer, die mit Deutschen in Ehe oder eingetragener Partnerschaft zusammenleben, sind Deutschen gleichgestellt. Die Rechtsstellung für Deutsche und ihre ausländischen Angehörigen hat sich also gegenüber der alten Fassung wesentlich verbessert.

Die Stellungnahmen der Sachverständigen im Anhörungsverfahren zum Gesetz spiegelten präzise deren berufliche Stellung. Der Münchner Oberstaatsanwalt Joachim Ettenhofer schwärmte etwa von den überaus positiven Erfahrungen mit dem Haftbefehl vor der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Durch den Wegfall der umständlichen Prüfungen mit ohnehin meist negativem Ausgang habe sich die durchschnittliche Verfahrensdauer erheblich verkürzt.

Vernichtende Kritik kam dagegen von dem Frankfurter Rechtsprofessor Peter-Alexis Albrecht und einigen seiner Kollegen. Ein rechtsstaatliches europäisches Strafrecht, meinte er, dürfe nur durch die Vordertür demokratischer Legitimation auf die europäische Bühne gelangen, auf der Grundlage einer breiten öffentlichen Diskussion. Tatsächlich schleiche es sich, wie der Europäische Haftbefehl zeige durch die Hintertür. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Justizentscheidungen sei dem Prinzip der Waren- und Diensleistungsfreiheit nachgebildet. Während es dort die Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer erweitere, erweitere es hier die Eingriffs- und Sanktionsbefugnisse der staatlichen Gewalt. Der Rahmenbeschluß zum Haftbefehl erhebe die jeweils schärfste Strafrechtspflege der 25 Mitgliedstaaten zur europaweiten Rechtspraxis und verpflichte jeden anderen Mitgliedsstaat, sie mittels Auslieferung zu unterstützen.

Indem der Rahmenbeschluß vom Ministerrat, einem Exekutivorgan, gefaßt wurde und die nationalen Parlamente verpflichtet seien, ihn umzusetzen, verstoße das Zustandekommen gegen das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung. Diese Konstruktion der "Dritten Säule" der EU führe gerade in dem Haftbefehl zu einer "Verpolizeilichung" der Kriminaljustiz. Die "Katalogtaten" des Rahmenbeschlusses, auf die auch das deutsche Gesetz Bezug nimmt, seien keine Straftatbestände im Geiste der europäischen Strafrechtstradition - eng, präzise, gesetzesgebunden und freiheitsichernd - sondern literarische Begriffe mit ungewissem Geltungsbereich. Selbst hinter einem so scheinbar präzisen Begriff wie "vorsätzliche Tötung" stünden ganz unterschiedliche Vorstellungen.

Einige nationale Rechtsordnungen zählen den Suizid dazu, einige die Abtreibung, einige die aktive Sterbehilfe - und andere eben nicht. Mit dem Europäischen Haftbefehl und dem Verzicht auf Prüfung der gegenseitigen Strafbarkeit verpflichtet sich Deutschland, an der Bestrafung von Handlungen mitzuwirken, die es nicht für strafwürdig oder nicht einmal für rechtswidrig hält. Vor allem ist aber einzuwenden: Niemand weiß genau, woran mitzuwirken der Bundestag die Justiz verpflichtet hat. Und der Betroffene kann sich nicht einmal richtig wehren.


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