© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

In Grund und Boden bombardiert
Krieg in Nahost: Es ist offenkundig, daß es rein militärische Lösungen für Israels lebensbedrohliches Dilemma nicht gibt
Günther Deschner

Seit Wochen herrscht im Nahen Osten Krieg. Nicht Kleinkrieg, an den sich die Welt im Lauf der Jahrzehnte schon als eine perverse Form von Normalität gewöhnt hat, sondern ein eskalierender "großer" Krieg: Auf denLibanon fallen Bomben - allein 23 Tonnen auf einen Häuserblock in Beirut, in dem man fälschlicherweise den Hisbollah-Führer Sayyid Hassan Nasrallah vermutete. Die Infrastruktur wurde weitgehend zerstört. Wirtschaft, Handel, Verkehr liegen darnieder. Hunderttausende sind auf der Flucht. Es sind vor allem Schiiten, die in panischer Angst ihre Heimat verlassen. Im Windschatten der Schlagzeilen setzt Israel auch seine Angriffe auf das palästinensische Gaza fort. Auch dort brechen Wirtschaft und Sozialsysteme zusammen. Auf der anderen Seite tragen Hisbollah-Raketen Tod und Zerstörung immer tiefer nach Israel hinein. Das ist Wildwest in Nahost.

Die arabischen Regime, meist mehr oder weniger US-abhängig, sehen der Abstrafung der Hamas und der Hisbollah tatenlos, teils sogar schadenfroh zu. Auch "der Westen" hat bislang kaum etwas unternommen; er hat das mit dem "Eintreten für das Existenzrecht" Israels bemäntelt. In Deutschland ist die politische Kategorie ohnehin weitgehend durch die moralische ersetzt.

"Heiliger Krieg" gegen Israel und seine Verbündeten

Vordergründig sind es die Schiiten-Miliz Hisbollah und Israel, die aufeinanderprallen. Den Krieg gegen den Libanon begann Israel zunächst mit dem präzisen Ziel, zwei Soldaten zu befreien. Vielleicht auch wegen der internationalen Schelte über die "Unverhältnismäßigkeit" der eingesetzten Mittel wurde ein neues Ziel nachgeschoben: die volle Entwaffnung der Hisbollah. Diese Forderung hat inzwischen erheblich an Klarheit verloren. Denn die Stimmen - auch aus Israel! - mehren sich, die dieses Ziel für kaum erfüllbar halten.

In ihren äußeren Zielen ist die Hisbollah eine radikal-islamistische Gruppierung. Israel und seinen Verbündeten hat sie den "Heiligen Krieg" geschworen. Auch bei deutschen Diensten liegen Hinweise darauf vor, daß die schiitischen Gotteskrieger auch bei uns "islamische Republiken" gründen würden, wenn man sie ließe. Die Trauer über ein Verschwinden dieser Organisation würde sich deswegen fast weltweit in engsten Grenzen halten.

Doch wem sollte die Vernichtung der Hisbollah gelingen? Weder die libanesische Regierung noch die "Staatengemeinschaft" und nicht einmal Israel selbst werden dazu imstande sein. Mit mehr als 6.000 Kämpfern, einem tiefgestaffelten und nach dem Vorbild der Vietcong ausgebauten Stellungs-, Höhlen- und Tunnelsystem, mit 10.000 oder mehr Kurzstreckenraketen und einem hohen Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der Modernität ihrer Waffen ist die Hisbollah die einzige handlungsfähige militärische Macht im Libanon. Die offizielle libanesische Armee zählt zwar 70.000 Soldaten, in ihr spiegelt sich aber die konfessionell fragmentierte Gesellschaft des Zedernstaats. Sie würde, sollte sie im Inland eingesetzt werden, sofort entlang dieser Trennungslinien zerbrechen. Ein neuer Bürgerkrieg, der im libanesischen Bewußtsein einem Super-GAU gleichkäme, wäre das Ergebnis. Schiiten haben in dieser Armee bedeutende Positionen inne und stellen mehr als die Hälfte der Soldaten. Zudem wird die Schiiten-Organisation dort in der Region natürlich anders wahrgenommen als im Westen: Hier ist sie eine auf Gewalt versessene Miliz, rangiert in Israel, den USA und der EU als "Terrororganisation".

Die Hälfte der Bevölkerung im Libanon sind Schiiten

Im Libanon ist sie die authentische Vertretung der schiitischen Gemeinschaft, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Sie hat 14 Abgeordnete im Parlament und zwei Minister in der Regierung. Und sie hat, etwa in Groß-ayatollah Fadlallah, ihrem Mitgründer und jetzigen geistlichen Führer, auch Persönlichkeiten, die zu Besonnenheit und Gewaltverzicht aufrufen. Für die Schiiten ist diese Organisation der eigentliche Staat. Sie stellt im Süden des Libanon, im südlichen Beirut und im Bekaatal das Gesundheitswesen und die Sozialfürsorge und ist der größte Arbeitgeber. Eine solche Organisation läßt sich von der Bevölkerung nicht trennen. Wer das nicht sieht, spielt Blindekuh.

Zusammengewürfelte UN-, EU- oder Nato-Truppen, über die jetzt diskutiert wird, wären zur Entwaffnung der Hisbollah - und notfalls zur Disziplinierung Israels! - wohl noch weniger in der Lage. Wie sollte eine Truppe ohne wirkliche Motivation das bewerkstelligen, was auch der mächtigen und rücksichtslos operierenden israelischen Armee bis heute nicht gelungen ist? Wie viele Kriege hat Israel nicht schon gewonnen, wie oft ist es nicht schon in den Libanon einmarschiert, hat Beirut in Grund und Boden bombardiert?

Auch keine der immer wieder unternommenen Offensiven gegen Terroristen, Dschihadisten und Islamisten aller Schattierungen hat das Land einem nachhaltigen Frieden nähergebracht - weder in Dschenin, Gaza oder Ramallah, und nicht im Libanon. Die Gebietsstreitigkeiten seit der Landnahme nach dem Sechstagekrieg von 1967 und das Palästinenserproblem blieben ungelöst und lieferten Gruppen wie Fatah, Hamas oder Hisbollah die Rechtfertigung, sich zu behaupten und Israel zu attackieren. Es ist offenkundig, daß es rein militärische Lösungen für Israels lebensbedrohliches Dilemma nicht gibt.

Spätestens seit Carl von Clausewitz gilt die Erkenntnis, daß Krieg die "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" ist, nicht aber ihr Ersatz. Erst die Koordinierung militärischer und politischer Strategie kann zu dauerhaften Ordnungen führen. Das gilt auch für andere "Mitspieler" in der Region. Sie bekommen derzeit zu spüren, daß sich Stimmungen und Machtverhältnisse in den vergangenen Jahren deutlich verändert haben. Als sich der Westen vor drei Jahren über die militärische Intervention im Irak zerstritt, sahen nur wenige voraus, daß am Ende eine Schwächung der westlichen Position stehen könnte.

Dabei ist der Irak, wo es nicht gelingt, Stabilität und inneren Frieden herzustellen, nur ein Aspekt. Ein anderer ist das erstarkte Selbstbewußtsein Persiens und der Respektverlust vor Positionen des Westens. Den Nahostkonflikt hat Teheran genutzt, sich als antiisraelische Speerspitze zu profilieren und Sympathien sunnitischer Araber und insgesamt der Muslime zu gewinnen.

Avancen Washingtons in Richtung Damaskus

Das laizistisch und gemäßigt-islamische Syrien als langjährig berechenbarer Stabilitätsfaktor wurde von der US-Regierung erst vor Jahresfrist gedemütigt und geschwächt und an die Seite der "innerlich" eigentlich abgelehnten iranischen Mullahrepublik genötigt. Nun gibt es mit den jüngsten Avancen Washingtons in Richtung Damaskus erste Anzeichen dafür, daß Syrien wieder eine Rolle bei dem Versuch angetragen wird, den israelisch-libanesischen Krieg zu entschärfen. So bleibt die zunächst noch vage Hoffnung, daß in der Nahostregion nach Wildwest und Blindekuh auch mal wieder Schach gespielt wird - das politisch-diplomatische "Spiel der Könige".


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