© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

Gottes Geheimnis schauen
Woraus man vertrieben wird, danach sehnt man sich zurück: Das Paradies bedeutet Erkenntnis
Robert Backhaus

Viele Zeitgenossen schwärmen in diesen Tagen von einem Paradies, wohin sie sich urlaubshalber für ein Weilchen zurückgezogen haben bzw. demnächst zurückziehen wollen. Teils ist es ein ganz und gar privates, "ihr" Paradies, teils haben sie es aus Reiseprospekten entnommen, wo "Paradies" ja eine der am häufigsten vorkommenden Lock- und Kaufreizvokabeln gworden ist.

Aber das Wort hat, wie man weiß, zur Zeit auch noch eine andere Konjunktur. Junge muslimische Selbstmordattentäter verwenden es, um damit jenes mythische, tief erquickliche Gefilde zu bezeichnen, in das sie, wie ihnen ihre Religion verheißt, "als Märtyrer" sofort und für immer "einzugehen" hoffen, sobald sie sich selbst und möglichst viele ihrer Mitmenschen in die Luft gesprengt haben. Zwischen friedlich-gemütlichem Urlaub und gewaltsam-zerfetzendem Tod spannt sich also die aktuelle Wortbedeutung von "Paradies" - eine schier aberwitzige Spannweite, so daß man beinahe darüber lachen möchte.

Die düstere Komik vertieft sich, wenn man sich klarmacht, daß "Paradies" am Ursprung keineswegs eine Ära meinte, in die man einging, sondern im Gegenteil eine, aus der man hinausgeschmissen wurde. Unter dem "Paradies" der persischen Zarathustrier, identisch mit dem "Garten Eden" der Bibel, verstand man die Heimat des ersten Menschen, des Urmenschen, der dort in tierischer Unschuld, ohne Wissen um Unendlichkeit und Tod, vor sich hin lebte, bis ihn der Satan in Gestalt einer Schlange vom sogenannten Baum der Erkenntnis kosten ließ. Das war der "Sündenfall", in dessen Gefolge Adam und Eva von Gott des Paradieses verwiesen wurden, um fortan im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen zu müssen.

Auch die modernen Wissenschaften vom Urmenschen und seinen Mythen, Paläo-Linguistik und Archäologie, kennen das Paradies nur als "Goldenes Zeitalter des Anfangs", wie man in einem soeben in London erschienenen Buch von Kevin Rushby, "Paradise. A History of the Idea That rules the World", ausführlich nachlesen kann. Der "Garten Eden" war die "Adina" der alten Sumerer, des Urvolks des Zwischenstromlandes, und bezeichnete die saftige grüne Steppe. Später wandelte sich die Bedeutung, "Adina" war nun ein Ort, der einst fruchtbar gewesen und dann unfruchtbar wurde, so daß ihn die Menschen verlassen mußten.

Die Forscher sagen, daß der Mythos vom Paradies die Änderung der Klimaverhältnisse am Ende der Eiszeit in der Levante abspiegelte. Die grüne Steppe trocknete damals immer mehr aus, das große, jagdbare Wild verschwand, die Wüste wuchs, die Menschen mußten sich gründlich umstellen. Soeben hatten sie sich noch als freie Antilopenjäger getummelt, jetzt galt es, den Boden zu bestellen, ihn halbwegs fruchtbar zu halten, zu säen, zu ernten und Vorräte für schlimme Zeiten anzulegen. Das Zeitalter des Ackerbaus brach an, und das war die Vertreibung aus dem Paradies.

Woraus man vertrieben wird, danach sehnt man sich automatisch zurück, und so sehnte man sich auch nach dem Paradies zurück und spann darüber seine Geschichten. Doch änderte sich allmählich das Sehnsuchtsmobiliar, im selben Maße, wie sich die kulturellen Bräuche und Vorlieben änderten und entwickelten.

Aus der saftig grünen Jagdsteppe von einst wurde im Lauf der Jahrhunderte ein Garten mit schattenspendenden Bäumen, köstlichen süßen Früchten und unerschöpflich springenden Brunnen, aus den gejagten Antilopen wurden überirdisch schöne, jederzeit willige Gesellschaftsdamen, schwarzäugige Jungfrauen mit keusch niedergesenkten Blicken, welche zuvor weder von Menschen noch von Dschinnen (Geistern) berührt worden waren, wie die 75. Sure des Korans versichert.

Freilich, mit der Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tode, Kernstück faktisch aller Religionen, vermischte sich die spezifische, auf Genuß und Luxus orientierte Paradieses-Sehnsucht nur teilweise oder gar nicht. Die meisten Völker, von den alten Ägyptern bis zu den Skythen und Sarmaten in den Weiten Asiens, imaginierten dieses Weiterleben nicht als privilegiertes Luxusdasein, sondern einfach als (allenfalls etwas optimierte) Fortsetzung ihres gewohnten, "normalen" Alltags in einer anderen Sphäre. Oder die Seelen der Helden und der Gerechten fuhren auf zum Himmel, wurden zu Gestirnen, begegneten den Göttern, zechten mit ihnen wie bei den alten Germanen, wurden des ewigen göttlichen Friedens teilhaftig, wie bei Buddhisten und Christen.

Interessant und theologisch wichtig blieb die Paradieses-Vorstellung nicht so sehr als Sehnsuchtsbild des Goldenen Zeitalters, sondern als monumentaler Rebus und als Parabel über die Stellung des Menschen im Rahmen der Schöpfung. Im Mittelpunkt steht dabei der Baum der Erkenntnis. Das Leben im Paradies ist ein vorab "glückliches", mit sich selbst einverstandenes Leben, aber es ist auch ein "dummes" Leben; die Kinder des Paradieses wissen nichts über Tod, Schuld und Verhängnis. Alles ist für sie so, wie es eben ist. Zwischen Sein, Sollen und Müssen gäbe es keinen Unterschied - wäre da nicht der Baum der Erkenntnis.

Man könnte ihn ignorieren (könnte man?), aber er gehört nun einmal zum Paradies dazu. Und aus ihm zischelt die Schlange: "Eßt von seinen Früchten, eßt, und ihr werdet sein wie Gott, wissend das Gute und Böse." Eritis sicut Deus scientes bonum et malum. Das ist die eigentliche, die ungleich höhere und dem Menschen einzig angemessene Verheißung des Paradieses. Paradies meint Wissen. Die absolute Utopie, das "ewige, in Ewigkeiten beruhigte Leben", ist das Wissen.

Daß es ausgerechnet Satan sein soll, der in Gestalt der Schlange Adam und Eva mit dieser paradiesischen Wahrheit konfrontiert, war für die besten unter den Theologen schon immer ein Ärgernis. Die Gnostiker haben sich geradezu mit Wildheit gegen solche Deutung aufgelehnt. Und der Kirchenvater Irenäus, der in einem umfänglichen Traktat frontal mit den Gnostikern abrechnete, machte ihnen an diesem Punkt ausdrücklich ein Zugeständnis.

Er räumte ein, daß hinter der Paradiesesschlange nicht Satan als solcher, sondern letztlich doch Gott gestanden habe und daß als Konsequenz daraus - nach Weltgericht und Herstellung der Gerechtigkeit - am wirklichen "Ende aller Tage" und gleichsam als Pointe der Erlösung nicht seichtes Wohlleben, respektive ewige Ruhe kommen werde, sondern die große Einweihung, also die Bekanntmachung damit, wie es nun wirklich mit Gottes Geheimnis bestellt sei, jenseits aller Räumlichkeit und Zeitlichkeit und Verschiedenheit und Unendlichkeit und Endlichkeit und Logos und Licht und Finsternis.

Man sieht: Das richtige Paradies, erkannte man schon früh, ist weder Urlaub noch Belohnung für Sprengstoffanschläge. Es ist vielmehr gelungene (Erkenntnis-)Arbeit, nichts anderes. "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen."

Kevin Rushby: Paradise. A History of the Idea That rules the World, Verlag Caroll & Graf, London 2006, 374 Seiten, ca. 30 Euro


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