© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

"Opfergang für die Nation"
Astrid Gräfin von Hardenberg über den Patriotismus des 20. Juli 1944 und den Kampf ihres Vaters für Deutschland
Moritz Schwarz

Gräfin von Hardenberg, Deutschland hat 2006 seinen patriotischsten Sommer seit dem Wunder von Bern erlebt. Haben Sie sich gefreut?

Hardenberg: Ja, es war unheimlich erfreulich all die jungen Deutschen, die sich fahnenschwenkend für das Vaterland gefreut haben, zu sehen.

Der 20. Juli 1944 wird offiziell als "Aufstand des Gewissens" tituliert, völlig zu Recht, was aber die patriotischen Motive unterschlägt.

Hardenberg: Meinen Vater trieb, ebenso wie die anderen Widerständler der Abscheu über Diktatur und Verbrechen der Nationalsozialisten wie die Liebe zu Deutschland an. Er nannte es ausdrücklich "die Pflicht derer, die klar sehen, die deutsche Jugend nicht weiter sterben zu lassen und der Vernichtung der deutschen Städte und Kunstbauten Einhalt zu gebieten". Und er sprach vom Widerstand gegen Hitler als "Dienst an Volk und Vaterland". Das Problem ist, daß man heute diese Sprache nicht mehr versteht. Für die meisten Jungen ist Deutschland zwar ein schönes Land - aber Mallorca ist auch schön. Das Pathos des "Opfergangs für die Nation" stößt auf Unverständnis. Ich merke das bei meinen Vorträgen immer wieder: Schon der Begriff Vaterland ist den Jungen fremd, erst recht der Gedanke, dafür zu sterben.

Was also ist der Unterschied zwischen dem Patriotismus 2006 und dem des 20. Juli 1944?

Hardenberg: Der Patriotismus der Männer und Frauen des 20. Juli war still, ernst, erwachsen und tiefgründig. Es ging nicht darum, seinen Spaß zu haben, sondern seinem Land in schwerer Stunde zu dienen. Nicht das Fahnenschwenken, sondern die Bereitschaft, Opfer zu bringen, machen einen guten Patrioten aus. Um es mit einem Bild zu verdeutlichen: Die Kleidung der Patrioten des 20. Juli war zumeist der feldgraue Rock, nicht der schwarzrotgoldene Bikini.

Empfinden Sie das als frivol?

Hardenberg: Nein, das ist eben heute so. Man kann von den jungen Leuten nicht mehr erwarten, daß sie noch wissen und verstehen, was Patriotismus damals bedeutet hat.

Warum nicht?

Hardenberg: Zum einen, weil heute die Erziehung dafür fehlt. Zum anderen, weil wir damals in einer extremen Zeit gelebt haben. Man kann von keinem Menschen erwarten, daß er sich unter normalen Umständen in solch eine Lage versetzen kann. Mir kommt es heute selbst ganz unvorstellbar vor. Es war wirklich ein Wahnsinn: der Krieg, die Diktatur, die Vertreibung, der Zusammenbruch.

Doch steht bei vielen Jugendlichen der Idealismus immer noch hoch im Kurs. Sie haben einmal gesagt: "Man kann als junger Deutscher nur dankbar sein, daß diese Menschen einen Teil der Ehre Deutschlands gerettet haben." Warum geht der 20. Juli, bei allem Wohlwollen, so völlig an den Herzen der jungen Deutschen vorbei?

Hardenberg: Das hat verschiedene Gründe, sicher auch weil die meisten Medien sich keine Mühe geben, der Jugend den Widerstand gegen Hitler, der ja schon lange vor dem 20. Juli aktiv war, nahezubringen. Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek beklagt zum Beispiel in seinem Buch "Wir Deutschen", daß es in der Gegenwart keine erhebenden großen Kinofilme zur deutschen Geschichte gibt. Wie wäre es da zum Beispiel mit dem Thema 20. Juli? Ein anderer Grund ist sicherlich, daß Vorbilder heute nicht mehr hoch im Kurs stehen. Was gefragt ist, sind "Stars", die man anhimmeln kann, aber keine charakterlichen Vorbilder. Aber die Schuld liegt nicht bei der Jugend, sondern bei uns, denn wir erziehen sie nicht mehr dazu, sich so zu orientieren.

Wie hat man sich die Erziehung von damals vorzustellen von der Sie sprechen, die Menschen befähigte, so zu handeln?

Hardenberg: Ich würde vor allem eine Erziehung im christlichen Glauben nennen, der so elementare Dinge wie Demut, Treue, Hingabe, Verantwortung und Vertrauen lehrt. Vor allem letzteres ist wichtig: Um in seinem Handeln gegenüber weltlichen Gewalten frei sein zu können, muß man dazu erzogen worden sein, auf Gott zu vertrauen. Mein Vater schrieb: "Daß wir von irdischen Richtern verurteilt werden würden, nahmen wir in Kauf. Am Stuhle Gottes jedoch hoffen wir auf einen milden Richter, der in das Herz der Menschen sehen konnte." Die ganze Familie, besonders meine Mutter, stand hinter meinem Vater. Sie hätte ihm ja vorwerfen können, daß er mit seinen Aktivitäten die Familie gefährde. Aber meine Mutter wußte, was die Pflicht und Schuldigkeit meines Vaters als Adliger, Offizier und Patriot war. Das ist dieser christliche Verantwortungsbegriff: Vom eigenen abzusehen und sich der Gemeinschaft verpflichtet zu fühlen. Mein Vater hätte von einem anderen nie etwas verlangt, was er selbst nicht zu tun bereit gewesen wäre. Er war ein Junker im besten Sinne des Wortes, jemand der Verantwortung für eine Lebensgemeinschaft aus Familie, Haus, Hof und alle die in unseren Diensten standen, ebenso wie für den Staat trug und Patron mehrerer Kirchen war. Der immer half, wenn einer unserer Leute ein triftiges Anliegen hatte. All die am Widerstand gegen Hitler Beteiligten hatten einen ausgeprägten Verantwortungsbegriff, das waren keine Haudegen und Draufgänger. Es waren allesamt Familienväter, Menschen die das Leben liebten, und denen der Bruch ihres Fahneneides, die Tatsache, daß ein Anschlag auf Hitler auch das Leben Unschuldiger kosten würde und der notwendige Selbstmord bei einem Scheitern, um der Gefahr zu entgehen unter der Folter Kameraden zu verraten, der dem christlichen Selbsttötungsverbot widersprach, größte Gewissensbisse bereitete.

Sie berichten, wie Sie als Kind nach einem Unfall im Krankenhaus aus der Narkose aufwachten. Ihr Vater stand am Bett, sein Kommentar: "Sehr anständig, daß Du nicht geweint hast."

Hardenberg: Ja, ich muß aber sagen, daß mir das zu weit geht. Eigentlich war mein Vater ein sehr gütiger, nachsichtiger und liebevoller Vater. Aber er war eben auch streng, wobei seine Strenge immer einherging mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Vielleicht war es diese, in meinen Augen manchmal übertriebene Strenge, die ihn befähigt hat, im vollen Bewußtsein der Gefahr so zu handeln, wie er dann gehandelt hat.

Sie sprechen von Erziehung zu Disziplin?

Hardenberg: Das hat uns natürlich auch geholfen durch die Zeit zu kommen. Bedenken Sie, wir sind aufgewachsen als die Nachkommen des bekannten preußischen Staatskanzlers Carl August Fürst von Hardenberg, auf einem großen Gut mit vielen Angestellten. Und dann 1944 war plötzlich von einem Tag auf den anderen alles weg und wir waren Flüchtlinge wie alle anderen auch. Daß wir das durchgestanden haben, verdanken wir in erster Linie unserer preußischen Erziehung. Mit einer Erziehung von heute wären wir wohl schon in den ersten Tagen zusammengeklappt. Es mag widersprüchlich klingen, aber ich glaube, daß man den jungen Leuten von heute keinen Gefallen tut, wenn man sie so komfortabel, das heißt ohne Rückgrat, erzieht. Ich glaube, man hilft ihnen damit nicht, im Leben Probleme zu meistern.

Über den Moment, als Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 losschlug, schrieb Ihr Vater: "Ich fühlte mich als Soldat, der nach langem Warten das Signal zum Sturmangriff ertönen hört."

Hardenberg: Man kann sich heute den Druck gar nicht vorstellen, unter dem diese Menschen gestanden haben. Nicht nur wegen all der schon erwähnten Gewissensbisse, sondern auch sowohl wegen der beständigen Sorge, für das Reich zu spät zu kommen, als auch bei mangelnder gründlicher Vorbereitung vorzeitig alles zu enttarnen. Jeder von ihnen erlebte Momente, in denen er fürchtete, alles sei verraten. So ging es etwa Stauffenberg, Tresckow und Margarethe von Oven, die die Aufrufe an Volk und Heer auf der Schreibmaschine geschrieben hatte, als eines Tages auf der Straße in Berlin, die Aufrufe in der Aktentasche bei sich, ein Greifkommando von hinten an die Gruppe heranjagte und der Lastwagen dicht vor ihnen abstoppte. Die Beamten sprangen herunter, als die drei das Haus gerade erreicht hatten und sperrten alles ab - allerdings ohne sich um sie zu kümmern, sie waren gar nicht gemeint. Stauffenberg berichtete später, wie ihm das Herz stillgestanden habe. Als mein Vater einmal versuchte, einen Feldmarschall für den Aufstand zu gewinnen, reagierte der mit der Äußerung, ihn verhaften zu lassen. Da klingelte mein Vater geistesgegenwärtig nach der Ordonnanz und forderte den Drohenden heraus, indem er zu dem eintretenden Soldaten sagte: "Herr Feldmarschall wollten einen Befehl erteilen." - Mit einem verlegenen Lächeln wurde über die Sache hinweggegangen.

Am 20. Juli 1944 war ihr Vater als Verbindungsmann zwischen Stauffenbergs Allgemeinem Heeresamt in der Berliner Bendlerstraße und dem Generalkommando der Wehrmacht in der Hohenzollernallee eingesetzt - wobei er kaum etwas zu tun hatte. Seine eigentliche Bedeutung liegt in der Zeit vor dem 20. Juli, als er am Aufbau der Widerstandsgruppe beteiligt war.

Hardenberg: Mein Vater war schon an der Planung des nur knapp mißlungenen Attentats auf Hitler 1943 im Berliner Zeughaus beteiligt. Die Gestapo suchte inzwischen nach Verschwörern. Auf unserem Gut war man jedoch vor Überwachung relativ sicher. So entwickelte sich Neuhardenberg zu einem wichtigen Treffpunkt für den Widerstand. Mein Vater schrieb später, jeder Baum und Strauch hier erinnere ihn an diese Zeit, so zahlreich waren die Spaziergänge und Ausritte der Offiziere und Zivilisten des 20. Juli, die sich hier trafen. Hier war es auch, wo mein Vater, nachdem er, da er sich beim Sturm auf das Allgemeine Heeresamt nicht im Bendlerblock befunden hatte und so nach dem Scheitern des Aufstandes zunächst unbehelligt Berlin verlassen konnte, sich zweimal in die Brust schoß, als die Gestapo ihn verhaften wollte.

Allerdings überlebte er den Selbstmordversuch.

Hardenberg: Und auch einen zweiten in der gleichen Nacht, bei dem er sich mit einer stumpfen Papierschere erst die Schußwunden, dann die Pulsadern öffnete. Im KZ pflegte ihn ausgerechnet ein Kommunist gesund. Der Prozeß gegen ihn hatte begonnen - das Todesurteil war schon beantragt -, als die Russen Sachsenhausen am 22. April 1945 befreiten. Mein Vater überlebte alles, obwohl er in seinem Leben mehrfach am Rande des Todes gestanden hatte.

Während Stauffenberg zunächst große Bewunderung für Hitler hegte, war Ihr Vater von Beginn an gegen die Nationalsozialisten: Er verlor 1933 seine Ämter in der Kreisverwaltung, weil er sich weigerte Parteimitglied zu werden.

Hardenberg: Wie viele Widerständler war auch Stauffenberg zunächst ein Hitler-Verehrer, und zwar aus dem gleichen Grund, warum er dann zum Hitler-Gegner wurde: Weil er unbedingt für Deutschland war und sich zunächst, wie so viele andere auch, falsche Vorstellungen vom Nationalsozialismus machte. Das Parteiprogramm der NSDAP umfaßte am Anfang auch zahlreiche positive Inhalte. Mein Vater zählt zum Beispiel auf: "Erziehung zu Vaterlandstreue, Überwindung der Klassenkämpfe, Zerschlagung des Kommunismus, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Wiederherstellung des deutschen Ansehens im Ausland." Was er aber strikt ablehnte, war die Christen- und Judenverfolgung, "die Vergewaltigung Andersdenkender", die Ermordung Schleichers, die Diffamierung Fritschs, überhaupt, daß die Nazis "unserem Heer das Rückgrat gebrochen haben und ihm immer mehr Handlungen zumuteten, die mit der Ehrauffassung früherer Zeiten unvereinbar waren". Ausdrücklich nannte er etwa den Raub von Privateigentum, die Erschießung der Kommissare, die Ermordung von Juden, Polen und Russen durch die SS hinter der Front. Außerdem sah er "das überlieferte Eintreten des Offiziers für seine Untergebenen systematisch herausgezüchtet". Kritisierte, daß "der Kadavergehorsam - früher ein Schlagwort der Antimilitaristen - zur Mode und Ruhm, aber nicht Ehre gepriesen wurde". Aus dem Krieg berichtet er über die Behandlung russischer Gefangener: "Niedergeschossen wurde, wer nicht mithalten konnte. Die Straße lag voller toter Russen, über die deutsche Panzer nach Osten rollten. Nicht die Härte des Kriegs zwang dazu, sondern die Befehle von oberster Stelle, entsprungen aus dem Geist der religionslosen Überheblichkeit."

Gleich nach Beginn des Rußlandfeldzuges wurde Ihr Vater Zeuge der Ermordung Tausender Juden, woraufhin er seinen Vorgesetzen, Feldmarschall Fedor von Bock, zu einem - folgenlosen - Protest bei Hitler bewegen konnte.

Hardenberg: Was - ebenso wie die schon genannte Ablehnung des Antisemitismus von Anfang an - zeigt, daß die kaltschnäuzige Unterstellung mancher Zeitgenossen heute, dem 20. Juli sei das Schicksal der Juden gleichgültig gewesen, nicht zutrifft.

Ab 8. Mai 1945 geschah, was Ihr Vater immer verhindern wollte: der Untergang des Reiches und der Verlust des deutschen Osten.

Hardenberg: Das hat ihn den Rest seines Lebens schwer bedrückt. Der letzte Satz seiner Aufzeichnungen lautete: Die am Widerstand beteiligten starben, damit Deutschland leben sollte. Das Traurige ist, daß der Satz, der als Brücke zu den Nachgeborenen gemeint war, heute besser gar nicht mehr erwähnt wird, weil er - unverständlich für die Gegenwart - mehr trennt als verbindet. Was bleibt, ist heute zu wissen, daß diese Menschen nicht umsonst gestorben sind: Sie hinterlassen uns die Gewißheit, daß Aufrichtigkeit, Ehre und Verantwortung deutsche Tugenden sind. 

Foto: Henning von Tresckow (l.), Graf von Hardenberg: "Die Bereitschaft, Opfer zu bringen, macht gute Patrioten aus."

 

Astrid Gräfin von Hardenberg ist die Tochter des Widerstandskämpfers Carl-Hans Graf von Hardenberg und Renate von Schulenburgs. Sie arbeitete bis 1990 als Beamtin bei der EU-Kommission in Brüssel. Geboren wurde sie 1925 in Potsdam.

Carl-Hans Graf von Hardenberg: Der 1891 im schlesischen Glogau geborene Ururgroßneffe des Reformers und preußischen Staatskanzlers Carl August von Hardenberg wurde im Ersten Weltkrieg mehrfach verwundet. Bis zu seiner Reaktivierung als Major der Reserve im September 1939 bewirtschaftete der ehemalige Frontoffizier das Familiengut Neuhardenberg. Seine Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten kostete ihn 1933 seine Ämter in der Kreisverwaltung von Lebus. 1940 wird er Ordonnanzoffizier im Stab der Heeresgruppe B ("Mitte"), wo er Henning von Tresckow trifft, der den deutschen Widerstand gegen Hitler maßgeblich mitorganisiert. 1942 wird Hardenberg nach Berlin versetzt und kann die Gruppe um Stauffenberg verstärken. Das 70 Kilometer östlich von Berlin gelegene Neuhardenberg entwickelt sich zu einem wichtigen Treffpunkt für den Widerstand. Hardenberg ist so vor allem am Aufbau der Opposition beteiligt und soll nach dem Putsch Ministerpräsident von Berlin-Brandenburg werden. Er überlebt den 20. Juli 1944, wird verhaftet und soll zum Tode verurteilt werden. Das Kriegsende rettet ihn. Er stirbt 1958 in Frankfurt am Main. 1994 veröffentlicht der Historiker Günter Agde eine aufschlußreiche Dokumentensammlung ("Carl-Hans Graf von Hardenberg", Aufbau-Verlag)

 

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