© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/06 30. Juni 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Europa ohne Identität
Andreas Mölzer

Selbstzufrieden zog Wolfgang Schüssel Bilanz über die EU-Ratspräsidentschaft Österreichs. Es sei gelungen, Stil, Substanz und Atmosphäre "rüberzubringen", und die Zusammenarbeit mit der Kommission sei "hervorragend" gewesen. Den Bürger, den Souverän, erwähnte der Bundeskanzler mit keinem Wort. Denn diesem kam, wie es zum Brauch im Staate von Brüssel gehört, die Rolle eines Zaungasts zu. Die abgehobene politische Pseudo-Elite blieb lieber unter sich und feierte beim Après-Ski im noblen Wintersportort Lech am Arlberg oder im imperialen Rahmen der Wiener Hofburg.

Anläßlich des Mozart-Jubiläums traf sich die EU-Polit-Nomenklatura in Salzburg, um über den Sound of Europe zu debattieren. Herauskommen hätte dabei so etwas wie die Neuinterpretation der europäischen Identität sollen, ein zukunftsweisender großer intellektueller Wurf, der die Europäer mit neuen Visionen zu neuen Horizonten bewegen würde. Die wirkliche Dimension der europäischen Identität und damit auch das, was diese Identität ausschließt, wagten die EU-Granden jedoch nicht anzusprechen - wahrscheinlich auch deshalb, weil dies für die Erweiterungsphantasten unangenehme Folgen gehabt hätte.

Europa, verstanden als das christliche Abendland, zeigt auch gleichzeitig dessen Grenzen auf. Europa begriff sich immer als Widerpart zum Orient. Damit stand auch die orthodoxe Welt außerhalb des Abendlandes, war Gegner, manchmal Partner und bestenfalls Verbündeter dieses Europas. Und die islamische Welt war seit 732, als Karl Martell die Mauren in der Schlacht bei Tours und Poitiers schlug, bis hin zu den Türkenbelagerungen Wiens, der große Herausforderer und sogar Todfeind des christlichen Abendlandes. Und nun soll, wenn es nach dem Willen Brüssels geht, diese tausendjährige Gegnerschaft in eine kulturell-politische Gemeinsamkeit verkehrt werden.

Bei der kürzlich erfolgten Eröffnung der ersten Verhandlungskapitel mit der Türkei spielte die österreichische Ratspräsidentschaft eine unrühmliche Rolle. Anstatt Zypern zu unterstützen, das als einziges Mitgliedsland offen Widerstand gegen die Aufnahme Ankaras geleistet hatte, trug Wien aktiv dazu bei, daß der Inselstaat von seinem Vetorecht nicht Gebrauch machte. Dabei hätte Schüssel, der auch Chef der christdemokratischen ÖVP ist, leicht erkennen können, wie sehr sich die Türkei auch heute noch als Widerpart des christlichen Abendlandes versteht. Menschenrechtsverletzungen sind im islamischen Anatolien noch immer an der Tagesordnung, von der Diskriminierung der Christen ganz zu schweigen.

Auch in der Frage der EU-Verfassung erwies sich der österreichische EU-Vorsitz als die treibende Kraft gegen die Interessen der Bürger. Nicht in die Lösung der tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme Europas wurden Zeit und Energie investiert, sondern in die Suche nach Möglichkeiten, um die zentralistische Verfassung, deren Wiederbelebung bislang mißlungen war, doch noch in Kraft zu setzen. Dabei hätte Wien die historische Chance nutzen können, um die Initialzündung zur Ausarbeitung eines Grundlagenvertrages für ein Europa der freien und selbstbestimmten Staaten zu geben.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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