© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/06 30. Juni 2006

Mit Fahne und Tröte auf Wählerfang
Fußball-Weltmeisterschaft: Die Politiker hoffen darauf, von der Patriotismusbegeisterung profitieren zu können
Paul Rosen

Kaum kommt Begeisterung im Volk auf, heften sich Politiker an die Fersen der Bürger, die in diesen Tagen mit schwarzrotgoldenen Fahnen durch die Straßen der Städte ziehen und auch ihre Autos entsprechend dekoriert haben. "Wenn ich sehe, welches Potential an Begeisterung und Fröhlichkeit in unserem Lande steckt, wenn ich sehe, wie andere in diesen Tagen von außen auf uns schauen und begeistert sind, dann wird mir nicht bange, daß unser Land die Herausforderungen, vor denen es steht, nicht meistern könnte", sagte Kanzlerin Angela Merkel in der Haushaltsdebatte des Bundestages in der vergangenen Woche.

Abgeordnete pilgern zu den Live-Übertragungen

Das Ereignis Fußballweltmeisterschaft hat die Bundespolitiker nicht kalt gelassen. Auch Abgeordnete sind Menschen, und unter ihnen gibt es einen genauso hohen Anteil von Fußball-Begeisterten wie unter der Bevölkerung selbst. Abgeordnete pilgern zu Hunderten in die unmittelbar am Reichstag aufgebaute Arena, um Live-Übertragungen von Spielen zu sehen, und viele, zum Beispiel CSU-Chef Edmund Stoiber, sind bei fast allen Spielen der deutschen Mannschaft dabei. In mehreren Berliner Vertretungen der Bundesländer sind Großleinwände aufgebaut worden, um Gästen aus der Politik die Gelegenheit zu geben, die Spiele in fröhlicher Runde zu sehen. Und selbst auf dem Sommerfest der vornehmen Parlamentarischen Gesellschaft am Reichstag war eine Torwand aufgebaut, an der Besucher ihr Können demonstrieren konnten.

Daß zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik schwarzrotgoldene Fähnchen praktisch an jedem Kiosk zu haben sind, hat Gründe. Die WM zeigt, daß die Deutschen etwas normaler geworden sind. Zeiten, als man den Bundesbürgern einreden wollte, sie seien besser Europäer statt engstirnig-national Deutsche, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Der Vorstoß der linken Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gegen die Nationalhymne ging ins Leere (JF 26/06). Das Schwenken der Fahnen nicht nur durch die Fans, die Hertha oder Schalke-Wimpel durch die deutschen Nationalfahnen ersetzt haben, sondern auch durch sonst Fußball-Distanzierte, zeigt ein Land auf dem Weg zur Normalität.

Es ist nur zu verständlich, daß Politiker versuchen, mit dieser guten Stimmung ein eigenes Süppchen zu kochen. Verbrannt hat sich dabei allerdings der FDP-Politiker Rainer Brüderle, der im Bundestag allen Ernstes behauptete, der neue Fahnenpatriotismus sei die "größte Straßendemonstration gegen die Große Koalition". Ein regelrechtes Foul verübte CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder, als er darauf hinwies, "was die Deutschen in diesen Tagen vorleben: Steh auf, wenn Du ein Deutscher bist! Nimm die Sache in die Hand und bring das Land voran." Die nationale Begeisterung erfaßte auch die CSU. Deren Bundestagsabgeordneter Johannes Singhammer forderte, alle öffentlichen Gebäude mit schwarzrotgoldenen Fahnen zu schmücken.

Leute wie Kauder möchten die Begeisterungswogen im Volk auf ihre Mühlen umleiten. Die Bürger sollen die Steuererhöhungen und andere Mehrbelastungen schlucken, da nur so das Land aus den Problemen geführt werden kann. Denn eines ist fällt auf. Die Stimmung im Volk steht seit Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in einem deutlichen Gegensatz zur allgemeinen Lethargie in der Zeit davor. Die Große Koalition begann sich wie Mehltau über das Land zu legen und Wachstumskräfte zu ersticken. Das haben natürlich auch die politischen Akteure in Berlin gemerkt und hoffen, daß der Stimmungswandel auch über den 9. Juli, dem Ende der WM, anhält - egal, ob die Nationalmannschaft ins Endspiel kommt oder nicht.

Schlechte Stimmung in der Großen Koalition

Dafür müßte es aber auch im politischen Berlin eine gute Grundstimmung gegeben, und die ist in der Großen Koalition nicht mehr vorhanden. Bei der Haushaltsdebatte fiel bereits auf, daß SPD-Abgeordnete kaum noch Beifall spendeten, als Merkel ihre Rede hielt. Die Kanzlerin wirkte schon kurz nach Beginn müde - oder um ein Fußball-Bild zu verwenden: Sie machte den Eindruck eines überforderten Stürmers in der 89. Minute. Umgekehrt ist zu beobachten, daß auch Unionsabgeordnete die Reden ihrer SPD-Kollegen über sich ergehen lassen und kaum noch die Hand zum Beifall heben wollen.

Wenn man die Koalition mit einer Fußballmannschaft vergleicht, fällt schnell auf, daß es an Teamgeist fehlt und keine Strategie für die nächsten Spiele da ist. Die ersten Spiele der Großen Koalition wurden gegen die Wähler geführt: Die Zuschauer mußten erleben, daß sie für schlechte Spiele hohe Eintrittsgelder in Form von gigantischen Steuererhöhungen zu zahlen hatten. Und es wird nicht besser, wenn man an das Gesundheitsreform-Turnier denkt. Union und SPD streiten sich zwar wie die Kesselflicker, sind aber im Grundsatz bereits über drastische Mehrbelastungen der Bürger einig. Daß die Begeisterung der Deutschen für den Fußball in irgendeiner Form auf die Politik überschwappen könnte, kann daher ausgeschlossen werden. Wer ist schon bereit, für schlechte Spiele teures Geld zu zahlen?

Folgenlos für die Politik bleibt die WM aber keinesfalls. FDP-Chef Guido Westerwelle, selbst kein großer Fußball-Fan, wies im Bundestag darauf hin: "Ich glaube, was hier stattfindet, wird uns noch lange beschäftigen. Bis vor wenigen Monaten haben wir es ja noch erlebt, daß Bundesminister beim Singen der Nationalhymne die Zähne nicht auseinandergekriegt haben, geschweige denn die Hände aus den Hosentaschen. Da hat sich einfach etwas zum Guten gewendet. Das ist aufgeklärter Patriotismus, das ist europäischer Patriotismus, der uns Deutschen auch guttut."


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