© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Denkpause
Karl Heinzen

Vor etwas mehr als einem Jahr sprachen sich die französischen Bürger in einer Volksabstimmung mehrheitlich gegen den Europäischen Verfassungsvertrag aus. Ihrem Votum folgten kurz darauf die Niederländer mit einer sogar noch größeren Mehrheit. Dieses saloppe und launische "Nein" überschattet bis heute den Ratifizierungsprozeß für ein Verfassungswerk, an dem sich Koryphäen aus ganz Europa jahrelang den Kopf zerbrochen haben.

Streng genommen hätte der Verfassungsentwurf damit als abgelehnt zu den Akten gelegt werden müssen, da er der Zustimmung aller derzeit 25 EU-Mitglieder bedarf. Diese Betrachtung ist jedoch zu formalistisch. Dort, wo es um Weichenstellungen für unser aller Zukunft geht, dürfen die in der Verantwortung stehenden Politiker keinen Kotau vor unausgegorenen Befindlichkeiten des vermeintlichen Souveräns machen, sondern müssen das, was als notwendig und richtig erkannt wurde, stur im Auge behalten.

Die EU hat in diesem Sinne gehandelt und sich lediglich eine "Denkpause" verordnet, anstatt das Ziel einer Europäischen Verfassung kleinmütig preiszugeben. Die Phase der Reflexion wurde zudem dazu genutzt, die Ratifizierung in jenen Staaten fortzusetzen, die als sichere Kantonisten gelten konnten. Nun allerdings scheint der Zeitpunkt nahe, an dem vom Nachdenken wieder zum Handeln übergegangen werden soll. Die einfachste Lösung für die Fortsetzung des Verfassungsprozesses wäre sicherlich, den Franzosen und Niederländern die Chance zu geben, durch ein "Ja" in einem neuerlichen Referendum ihren Irrtum einzugestehen und Wiedergutmachung zu leisten. Ob die Bürger dazu vernünftig genug sind, muß jedoch bezweifelt werden. Eine Alternative wäre, einen abgespeckten und nicht notwendigerweise als "Verfassung" deklarierten Entwurf auf den Weg zu bringen. Hier müßten jedoch auch alle 15 Staaten, die schon "Ja" zum bisherigen Text gesagt haben, erneut um Zustimmung gebeten werden.

Vielleicht böte daher doch der pragmatische Weg die beste Perspektive, dem Dilemma zu entrinnen: Man könnte die Verfassung ja auch schlichtweg oktroyieren. Die Bundesrepublik Deutschland bietet mit ihrem Grundgesetz schließlich ein Vorbild, wie man auch ohne Plebiszit die Legitimität einer Verfassung sicherstellen kann. Die EU könnte sich hier überdies das Desinteresse der Bürger an ihren Institutionen endlich einmal zunutze machen: Die meisten Europäer würden vielleicht gar nicht realisieren, daß sie auch im Geltungsbereich einer gemeinsamen Verfassung leben.


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