© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/06 16. Juni 2006

Ein Haus voller stummer Dinge
Tendenziös: Ausstellung zur Deutschen Geschichte in Berlin
von Thorsten Hinz

Seit der Eröffnung der Dauerausstellung "Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen" im Berliner Zeughaus Unter den Linden ist der prachtvolle Schlüterbau wieder mit Leben erfüllt. Das ist die gute Nachricht. Die weniger gute: Die Debatten und Diskussionen um das Projekt eines deutschen Nationalmuseums, an deren Anfang der Historikerstreit stand, haben zu einem faden Ergebnis geführt.

Die Ausstellung ist nicht provokant, nicht langweilig, sie atmet bloß jene neue deutsche Spießigkeit, die sich modern und europäisch wähnt. Sie beginnt bei den Römern und Germanen und endet bei Christos Reichstagsverhüllung. Germanenzeit und Mittelalter werden knapp, fast stichwortartig abgehandelt, man nimmt keinen Eindruck davon mit. Das liegt nicht an den für diesen Zeitraum spärlichen Exponaten, sondern an ihrer desinteressierten Aufbereitung. Von der Schlacht im Teutoburger Wald bis zu Karl dem Großen sind es nur wenige Schritte, und wer eben noch vergeblich nach dem Stauferkaiser Friedrich II. Ausschau hielt, findet sich unversehens bei Luther wieder.

Ab dem 17. Jahrhundert ist die Ausstellung üppiger, sie quillt geradezu über - wir nennen nur Wallensteins Degen und Napoleons Hut -, doch auch sie sprechen nicht zum Betrachter, denn die Ausstellungsmacher haben sie mit Stummheit geschlagen.

Mit ängstlicher Pedanterie haben sie es vermieden, die Aura der Stücke in Szene zu setzen. Das Museum will kein Schrein des Nationalen, sondern ein Ort aufgeklärter europäischer Gesinnung sein. Im Ergebnis wird sie weder Deutschland noch Europa gerecht. Kein ernsthafter Mensch käme heute auf die Idee, Objekte der Geschichte zu Fetischen nationaler Anbetung zu machen. Aber sie sind Artefakte, Symbole, Inkarnationen von Ideen, Erfahrungen, Glaubenssätzen, mögen diese auch längst vergangen sein. Die Ausstellung "Preußen. Eine europäische Geschichte", die 2001 im Berliner Schloß Charlottenburg stattfand, war ungleich klüger, mutiger, effektvoller konzipiert. Die preußischen Krönungsinsignien waren auf roten Samt gebettet und hell ausgeleuchtet, so daß noch den unbedarftesten Besucher eine Ahnung überkam, welche politische Wichtigkeit sich in ihnen einst manifestiert hatte, und er angeregt wurde, über ihre heutige, mittelbare Bedeutung nachzudenken.

Bleiben wir beim weitgehend unterschlagenen Stauferkaiser Friedrich II., der nach seinem Tod zu Orakelsprüchen anregte, in der Volkssage mit seinem Großvater Friedrich Barbarossa verschmolzen und in den Kyffhäuser entrückt wurde, der zum Träger des Kaisermythos und der Hoffnung auf ein Friedensreich in der Mitte Europas aufstieg. Wer davon nichts weiß, dem bleiben ganze Passagen aus Heines "Wintermärchen" verschlossen und wesentliche Teile der Geschichte Deutschlands bis ins 20. Jahrhundert hinein. "Seinen Kaisern und Helden - das Geheime Deutschland", heißt es in der Vorbemerkung zu Ernst Kantorowicz berühmter Friedrich-Biographie von 1927, die mit den Zeilen endet: "doch der größte Friedrich ist bis heute nicht erlöst, den sein Volk weder faßte noch füllte. 'Er lebt und lebt nicht' ... nicht mehr den Kaiser, sondern des Kaisers Volk meinte der Spruch der Sybille." Claus Graf Schenk von Stauffenberg kannte dieses Buch, aber auch Adolf Hitler. Was für Geschichten ließen sich da erzählen!

Apropos Hitler. In eine Ecke gedrückt befindet sich des Führers Schreibtisch, 3,30 Meter breit und 1,40 Meter tief, bestimmt für das 400 Quadratmeter große Arbeitszimmer in der Neuen Reichskanzlei. Auch mit ausgebreiteten Armen reicht man nicht von einem Ende der Tischplatte zum anderen, das Ding ist völlig unpraktisch, seine gewollte Erhabenheit kippt ab ins Lächerliche (und wird nicht dadurch würdiger, daß der Schreibtisch Erich Honeckers fast genauso groß ist). Der Möbelbauer Albert Speer war ein Gaukler, man wundert sich, wie Joachim Fest auf ihn hereinfallen konnte.

Der Tisch steht beziehungslos da, es bleibt ungesagt, daß er der stumme Zeuge war von Deutschlands schicksalsträchtigstem Moment im 20. Jahrhundert, den der Chefdolmetscher des Auswärtigen Amtes, Paul Schmidt, geschildert hat. Schmidt überbrachte am Vormittag des 3. September 1939 die ultimative Forderung der britischen Regierung, binnen Stundenfrist alle Angriffshandlungen gegen Polen einzustellen. Diverse NS-Größen standen nervös vor der Tür zum Arbeitszimmer, wo die beiden Vabanquespieler Hitler und Ribbentrop ihn gespannt erwarteten. Hitler, so Schmidt, habe an seinem Arbeitstisch gesessen und Ribbentrop am Fenster gestanden, als er ihnen langsam das Ultimatum übersetzte. "Wie versteinert saß Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie es später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie wieder andere es wissen wollten.

Er saß völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster stehen geblieben war. 'Was nun', fragte Hitler seinen Außenminister mit einem wütenden Blick in den Augen, als wolle er zum Ausdruck bringen, daß ihn Ribbentrop über die Reaktion der Engländer falsch informiert habe. Ribbentrop erwiderte mit leiser Stimme: 'Ich nehme an, daß die Franzosen uns in der nächsten Stunde ein gleichlautendes Ultimatum überreichen werden.'"

So war es. Hitlers Adjutant Nicolaus von Below bestritt ausdrücklich den Ort der Szene und verlegte ihn in den Wintergarten der Reichskanzlei. Auch seien Hitler und sein Minister weder überrascht noch entsetzt gewesen, nur enttäuscht. "Betroffene Ratlosigkeit verbreitete sich aber auch unter den wartenden Gästen und lastete auf allen." Trotzdem ist Schmidts Schilderung die gültige, denn er hat den historischen Moment in das einzig passende Ambiente verlegt. Diese Geschichte (bzw. Geschichten) hätte ein Deutsches Historisches Museum zu erzählen, statt dessen stellt es nur ein dummes, lächerliches Möbelstück aus.

Nichts gegen die Einbettung der eigenen Nationalgeschichte in den europäischen Kontext, alles andere wäre albern. Deutsche Geschichte läßt sich nicht erzählen ohne die Päpste, ohne Gustav Adolf, Richelieu, Mazarin, Napoleon oder die Zarin Katharina, die einem unbedeutenden deutschen Fürstenhaus entstammte und in Rußland "die Große" wurde. Aber es fehlt der Darstellung eine Idee, um die Dialektik zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen herauszustellen. So bleibt auch die Frage unbeantwortet, die die Zeit mit den Worten Helmut Plessners stellte: "Warum suchten die Deutschen einen Halt nicht in, sondern vor der Geschichte, im 'Volkstum'?"

Die Antwort lautet: Weil sie in der Geschichte wenig Glück gehabt hatten. Es ist die Tragik eines großen Volkes in der europäischen Mittellage, das stets im Zangengriff kompakterer Flügelmächte war, die ihren Anspruch auf Mitgestaltung nachdrücklich geltend machten. Bismarck war die Reichsgründung nur möglich, weil sich nach dem Krimkrieg 1853 bis 1856 kurzzeitig ein Fenster der Möglichkeiten eröffnete, das geschlagene Rußland mit inneren Reformen und die Briten mit der Konsolidierung ihres Empire beschäftigt waren. Allein waren die Franzosen zu schwach, um die deutsche Einheit zu verhindern. Doch ewig konnte die Abstinenz nicht dauern.

Ein Gemälde zeigt Bismarck während seiner großen Reichstagsrede vom 6. Februar 1888, in der er Deutschland eindringlich als saturierte Macht darstellte, die in einem Krieg nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hatte. In der Bildunterschrift wird erläutert, daß der Kanzler bei dieser Gelegenheit den Satz aussprach, der schnell zum geflügelten Wort wurde: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt!" Es wird unterschlagen, daß Bismarck damit auf russische Drohungen reagierte, und vor allem, daß er den Satz hinzufügte: "Und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt." So eine Zitierweise nennt man: Tendenzschmiere!

Ein Achtel der Ausstellungsfläche ist der NS-Zeit gewidmet. Dieser Bereich entspricht den Erwartungen. Soweit es um den Zweiten Weltkrieg geht, hat sich das Vokabular aus Reemtsmas "Vernichtungskrieg"-Ausstellung durchgesetzt. Der Besucher lese also vorher Goethe, um sich mit "Wanderers Gemütsruhe" zu wappnen: "Übers Niederträchtige/ Niemand sich beklage;/ Denn es ist das Mächtige,/ Was man dir auch sage ..."

Da wird behauptet, die vielen Selbstmorde 1945 in Deutschland seien aus Enttäuschung über den ausgebliebenen "Endsieg" und wegen der Verstrickung in das NS-System verübt worden. Kein Wort in diesem Zusammenhang über die furchtbaren Begleitumstände vor allem des russischen Vormarsches. Der Verlust der Ostgebiete wird geschäftsmäßig abgehakt, was insofern logisch ist, als die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung gar nicht erst thematisiert wurde. Eine Vertreibung aus Landsberg an der Warthe wird zur Vertreibung "aus Polen".

Das Museum setzt wenig Kenntnisse über die deutsche Geschichte voraus - wahrscheinlich zu Recht! Das Problem ist, daß es selber offenbar nur ein Minimum von Geschichtswissen für vermittelbar und überhaupt wünschbar hält. Hier stellt sich ein geschichtsloses Land vor.


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