© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Arztfreie Zonen
Ärztemangel in den neuen Bundesländern: Eine ausreichende Versorgung ist vielfach nicht mehr gegeben
Curd-Torsten Weick

Dramatisch sei die Situation, alarmierend und beunruhigend. Beim Thema ärztliche Versorgung in den neuen Bundesländern schrillen seit einigen Jahren die Alarmglocken. Doch richtet sich der Fokus der Medien seit geraumer Zeit in erster Linie auf die großen Ärztestreiks und weitaus weniger auf die "unheilvolle Entwicklung" im Osten Deutschlands. Würde diese Entwicklung jedoch nicht bald gestoppt, so warnt der Präsident der Landesärztekammer Brandenburg, Udo Wolter, werden "viele Landstriche bald ganz ohne ärztliche Versorgung dastehen". "Arztfreie Zonen" nennt dies der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, und verweist auf 11 von 99 Planungsbezirken Mitteldeutschlands, in denen "keine ausreichende hausärztliche Versorgung" bestehe.

Doppelte demographische Herausforderung

Die Zahlen und deren negative Tendenz sprechen für sich. Versorgte ein Arzt in Brandenburg im Jahr 2004 331 Einwohner, in Sachsen-Anhalt 310 Patienten, betreute er in Bayern 253 Personen (im Bundesdurchschnitt sind es 269). Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zufolge sinkt die Anzahl der Hausärzte in den neuen Bundesländern kontinuierlich: von 9.074 im Jahr 1999 auf 8.430 im Jahr 2005. Ein Ende der Talfahrt ist nicht abzusehen. Im Gegenteil. Bei einem durchschnittlichen Renteneintrittsalter von 62,6 Jahren wird in den nächsten zehn Jahren mehr als ein Drittel von ihnen in den Ruhestand gehen. Die Überalterung der Vertragsärzte ist offensichtlich. Allein in Mecklenburg-Vorpommern sind nach Berechnungen der dortigen AOK von insgesamt 2.749 Vertragsärzten 618 über sechzig Jahre alt (März 2006). Dies entspricht einem Anteil von 22, 5 Prozent. Bei den Hausärzten (1.100 zu 363) liegt der Anteil bei 33 Prozent - steigende Tendenz.

"Die Ärzte auf dem Land werden mit ihren Patienten alt", erklärte Bernd Niederland, Bundesgeschäftsführer des Sozialverbandes Volkssolidarität, auf einer Fachtagung derselben. Für die Länder zwischen Cap Arcona und Fichtelberg gelte, "daß die älter werdenden Ärzte immer mehr ältere Patienten zu behandeln haben". Kurz bezeichnet dies Ärztekammerchef Hoppe dies als die "doppelte demographische Herausforderung". Doch man könnte sie auch eine dreifache Herausforderung nennen. Denn der bitter benötigte Nachwuchs ist nicht in Sicht. Angesichts des Geburtenschwundes und der stetigen Abwanderung der jungen (Jungärzte-) Generation werden freiwerdende Arztstellen zu einem Großteil nicht mehr besetzt. Entsprechend errechnet die Volkssolidarität 777 unbesetzte Hausarztstellen und 242 unbesetzte Facharztstellen (November 2005).

Prekär ist die Situation vor allem in ländlichen Gebieten. Gerade hier gelten die Arbeitsbedingungen als unattraktiv: ein großes Einzugsgebiet, entsprechend weite Wege und überdurchschnittlich viele Patienten. Doch nicht nur dies. Als Ursachen der Versorgungsmisere erkennt Bernd Niederland Volkssolidarität vor allem spezielle Standortnachteile und spricht vom Gefälle bei Vergütung, von "unkalkulierbaren Verdienstaussichten, hoher Arbeitsbelastung, hohem Bürokratieaufwand", von Infrastrukturproblemen und der Abwicklung der DDR-Polikliniken im Zuge der Wiedervereinigung, die er als "politische Fehlentscheidung" bezeichnet.

Die Versorgungsmisere hat Folgen. So berichtete die Ärzte Zeitung (24. Januar 2006) kurz und knapp: "Sterberate nach Herzinfarkt im Osten höher. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt sterben überdurchschnittlich viele Menschen an einem Herzinfarkt. 40 Prozent über dem Bundeswert liegt in Brandenburg nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TK) die Sterberate nach einem Infarkt. Noch höher ist sie in Sachsen-Anhalt. Die Kasse stützt sich auf den aktuellen Herzbericht 2004 zur Kardiologie und Herzchirurgie in Deutschland. 109 Patienten pro 100.000 Einwohner starben demnach in der Mark im Jahr 2003 an einem Herzinfarkt. Nur in Sachsen-Anhalt seien es mit 111 noch mehr gewesen. Bundesweit liegt der Durchschnitt bei 78 Infarkttoten pro 100.000 Einwohner. Gründe für die hohen Quoten in den beiden Bundesländern nennt die TK nicht. Brandenburg und Sachsen-Anhalt weisen im Bundesvergleich die geringste Arztdichte auf."

Chronische Unterfinanzierung

Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen schlagen in erster Linie die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) Alarm, die für die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung durch niedergelassene Ärzte zuständig sind. Deren Vertreter sprechen von "chronischer Unterfinanzierung der ambulanten Versorgung" und forderten in diesem Sinne kurz vor der letzten Bundstagswahl von der Bundesregierung ein Sofortprogramm - heißt: eine Finanzspritze - in Höhe von 700 Millionen Euro. Der Vorstandsvorsitzende der KV Brandenburg und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Ost der KVen, Hans-Joachim Helming, begründete den Schritt und erklärte, die Unterversorgung sei "kein reines Sicherstellungsproblem der KV, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe". Denn, so Helming, "wenn wir das jetzt nicht beginnen, dann wird in zwei, drei Jahren, egal welche Partei an der Regierung ist, die wird ein unbeschreibliches Problem kriegen, ob es kommunale Politiker sind, Landes- oder Bundespolitiker, da werden alle mörderisch dran zu knabbern haben."

Doch die rot-grüne Bundesregierung wies das Ersuchen unter Hinweis auf die ärztliche Selbstverwaltung und mit der Kritik an falschen Zahlenangaben zurück.

Vor allem, wenn es um die Forderung nach gleichen Vergütungen und Arbeitsbedingungen für niedergelassene Ärzte in beiden Teilen Deutschlands geht, klaffen zwischen den ostdeutschen Interessenvertretern und staatlichen Stellen erhebliche Lücken. Taxiert die Vertretung der niedergelassenen Ärzte oder die Volkssolidarität den Verdienst der mitteldeutschen Ärzte auf nur 72,8 Prozent des Westniveaus bei 36 Prozent mehr Versorgung von Patienten sah das Bundesgesundheitsministerium bis dato weder ein höhere Belastung noch eine exorbitante Ost-West-Schere bei der Vergütung. Durchschnittlich verdiene ein niedergelassener Arzt in Mitteldeutschland 97,6 Prozent seines westdeutschen Kollegen.

Ungeachtet dieser Divergenzen sind die ärztefreien Zonen bereits Realität. Die betroffenen Organisationen können die Augen nicht verschließen und präsentieren unterschiedlichste Rezepte. Entsprechend wird über eine Aufhebung der Altersgrenze für niedergelassene Ärzte diskutiert, über die Einführung von rollenden Arztpraxen, die Errichtung von Zweigpraxen, die Einstellung von Assistenten auf Zeit, über eine Art Landarztzuschuß für junge Mediziner, über Image- und Informationskampagnen oder auch über die Übernahme von Patenschaften und Stipendien. Einzelne Kassenärztliche Vereinigungen bieten bereits Investitionszuschüsse, gewähren Umsatzgarantien bei Praxis-Neugründungen in unterversorgten Gebieten oder errichten Eigeneinrichtungen.

Doch alle Vorschläge und Versuchsballons sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und so stützt man sich bei der Aufrechterhaltung der ärztlichen Versorgung seit wenigen Jahren auf die Zuwanderung und Anwerbung von ausländischen Ärzten. Nach Angaben der KBV stieg die Zahl ausländischer Ärzte an den Krankenhäusern der neuen Bundesländer im Jahr 2001 um 13,5 Prozent von 532 auf 604 Personen, 2002 um 30,6 Prozent (798), 2003 um 56,4 Prozent (1.235), 2004 um 30,8 Prozent (1.614) und im Jahr 2005 um 11 Prozent auf 1.791 (insgesamt praktizierten im Jahr 2004 nach KBV-Angaben 10.042 Ärzte aus anderen Staaten in deutschen Krankenhäusern).

Die Mehrzahl dieser Ärzte kommt aus den mittel- und osteuropäischen Staaten, was nicht immer problemlos vonstatten geht. Entsprechend verweist der Präsident der Ärztekammer Sachsen-Anhalt Henning Friebel auf die auftretenden Sprachprobleme: "Es muß der Arzt den Patienten verstehen und der Patient muß den Arzt verstehen. Ansonsten wird ein vernünftiges Arzt-Patienten-Verhältnis kaum möglich sein", so der Präsident. Infolgedessen stehen die Landesärztekammern aus Sachsen-Anhalt und Sachsen in engen Kontakt zu österreichischen Universitäten, um zukünftige Ärzte für eine Tätigkeit im Land anzuwerben.

Die Rückkehr der DDR-Gemeindeschwester

Die Situation scheint derart verfahren, daß neuerdings ein alter Vorschlag der PDS zu Ehren kommt: die Wiedereinführung der Gemeindeschwester. Die Wiederbelebung der abgewickelten DDR-Institution wird auch von der Volkssolidarität gefordert und nun auch von den Sozialministerien in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern erprobt, gegen heftigen Widerstand des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, der Liga der freien Verbände und weiterer sozialer Trägerverbände.

Ganz der Tradition verhaftet sollen diese speziell ausgebildeten Pflegerinnen im Bereich der Vorbeugung, Pflege und Diagnoseassistenz arbeiten und so zur Entlastung und Unterstützung der wenigen Hausärzte beitragen. Ein weiterer Versuchsballon. Doch wer soll bei einer Ausweitung der Probephase die Nachfolgerinnen der berühmten DDR-Fernseh-Gemeindeschwester "Agnes" bezahlen, die in weißer Schwesterntracht auf ihrer Schwalbe (Moped) von Dorf zu Dorf brauste? Der Staat, die Krankenkassen?

Ungeachtet dieser Probleme zeigt sich Hans-Joachim Helming gegenüber dem Deutschlandfunk begeistert: "Diese Struktur der Gemeindeschwester ist hocheffektiv, wäre gerade mit Blick auf die Ärztemangelsituation eine ganz geeignete Möglichkeit, hier Abhilfe zu schaffen und die Versorgungsstabilität herzustellen in der Kooperation mit den Ärzten. Nur ist es unheimlich schwer, die Struktur wiederzubeleben, die damals mal beerdigt wurde, leider." Dies sieht die Sprecherin des Sozialministeriums, Christiane Baumann, grundlegend anders und erklärt der Wiederbelebung des Gemeindeschwester-Systems in Sachsen-Anhalt gegenüber der Nachrichtenagentur ddp eine Absage: "Das wäre eine Bankrotterklärung für den Erhalt einer qualitativ hochwertigen ärztlichen Versorgung auf dem Land." Doch gerade die die hausärztliche Versorgung scheint auf der Kippe zu stehen.

Sicher scheint nur die wachsende Verunsicherung bei den Patienten in sich ausweitenden Krisenregionen. Denn auch in ländlichen Gebieten Hessens und in Rheinland-Pfalz deuten die Zahlen auf Ungemach.

Stichwort: Volkssolidarität

Ihre Anfänge hatte die Volkssolidarität in den Maitagen 1945. Damals begannen, so die Eigenbeschreibung, "beherzte Menschen - Antifaschisten und humanistisch gesinnte Menschen" gegen die "Hinterlassenschaft von Nazi-Herrschaft und Krieg anzukämpfen". Als Teil des politischen Systems der DDR betreute die Organisation in erster Linie kranke und ältere Menschen. Seit 1990 ist die Volkssolidarität mit 360.000 Mitgliedern und 33.000 ehrenamt- lichen Helfern einer der großen Wohlfahrtsverbände . Sie betreibt ein umfangreiches Netz von sozialen Einrichtungen und sieht sich als sozialpolitische Interessenvertretung älterer Menschen.


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