© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Schwammige Vorstellungen
Sozialpolitik: Das Korruptionsgespenst im deutschen Gesundheitswesen geht um / Kritik von Transparency International
Jens Jessen

Da war sie wieder, die jährliche Meldung des Anti-Korruptionsvereins Transparency International Deutschland (TID): Im deutschen Gesundheitswesen gehen acht bis 24 Milliarden Euro jährlich durch Korruption verloren. "Betrug, Verschwendung und Korruption im Gesundheitswesen haben sich in Deutschland im Laufe der Jahrzehnte kontinuierlichen Wirtschaftswachstums in die Strukturen unseres auf Länderebene organisierten Gesundheitswesens regelrecht eingefressen", schreibt TID.

Ein Drittel der ärztlichen Leistungen nicht bezahlt

Die empirischen Grundlagen der TID-Schätzung bleiben nach wie vor im dunkeln. Die Skandalpresse, aber auch die marktwirtschaftlich fixierten Redaktionen, nehmen den Ball des Korruptionsvorwurfs gerne auf. Die einen wollen Randale der Randale wegen, die anderen wollen gewachsene Strukturen in Mißkredit bringen. Der zeitliche Zusammenhang der TID-Meldung mit den Beratungen zu Gesundheitsreformen ist nicht zu übersehen.

Als Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) 2003 das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) in Arbeit gab, damit von 2004 bis 2007 die Einsparungen von zehn Milliarden Euro bis auf 23 Milliarden Euro pro Jahr steigen, kam es in Niedersachsen gegen mehrere hundert Ärzte zu Ermittlungen wegen des Verdachts von Abrechnungsmanipulationen. Das ARD-Politmagazin "Panorama" titelte "Hausbesuch bei Toten" und Bild "Abzocker". Ärzte sollen 2003 unnötige Leistungen erbracht haben. Derartige Behauptungen lassen auf Unkenntnis der Realität schließen. Rund ein Drittel der ärztlichen Leistungen werden aufgrund des komplexen Punktwertverfahrens und des arztbezogenen Praxisbudgets überhaupt nicht bezahlt.

2004 war die Ärztejagd vorbei. Der Leiter der Ermittlungsgruppe Abrechnungsbetrug der AOK Niedersachsen, Peter Scherler, bestätigte beim 5. Lüneburger Sicherheitsforum für die Wirtschaft am 3. August 2004, daß die Überwachung der abrechnenden Vertragspartner bei den Ärzten weitaus weniger Auffälligkeiten ergeben hat als bei Orthopädietechnikern, Sanitätshäusern, Hebammen und Augenoptikern.

Von den acht Millionen Euro, die Scherler und seine Mitarbeiter bis Juli 2004 zurückholen konnten, stammten allein fünf Millionen von falsch abrechnenden Augenoptikern. Daß sich die meisten Beschuldigungen gegen Ärzte nach eingehenden Untersuchungen als haltlos erwiesen, fiel bei den Medien weitgehend nicht ins Gewicht. Ebensowenig wurde darauf hingewiesen, daß falsch abrechnende Ärzte bei einer gedeckelten Gesamtvergütung weder die Krankenkassen noch die Beitragszahler schädigen können. Schaden verursachen sie nur bei ihren korrekt abrechnenden Kollegen.

2006 wird wieder über eine Gesundheitsreform mit Sparillusionen nachgedacht. Die Ausgabenseite der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) soll auf den Prüfstand gehievt werden. Zum einen könnten mit Einsparungen bei den Leistungserbringern im Gesundheitswesen die Beitragszahler entlastet werden und zum anderen die Strukturen im Gesundheitswesen umgekrempelt werden. Aus der Ausgabenseite müßte dafür jedoch ein Milliardenbatzen gerissen werden, der allein seiner Größe wegen den Beitragszahlern glaubwürdig scheint.

Damit läßt sich Begeisterung schüren. Mit der Beseitigung der gespenstisch hohen Korruption im Gesundheitswesen wären bis zu 24 Milliarden Euro gespart. Wie gerufen kommt da die "Aufdeckung neuer Betrugsfälle" durch die Kaufmännische Krankenkasse (KKH), die sich von Januar bis April 2006 auf über 350.000 Euro summieren sollen. Schon 2005 seien Abrechnungen manipuliert worden mit einem Schaden von einer Million Euro. Um welche Abrechnungsmanipulationen aus welchem Bereich des Gesundheitswesen es geht, wurde verschwiegen.

Kostenexplosion nicht nur im Krankenhausbereich

In dieses Szenario ist die Realität schwer einzupassen. Die Kosten für den Krankenhausbereich wachsen jährlich um drei bis fünf Prozent. 2005 machten sie mit 49 Milliarden Euro mehr als 33 Prozent der Gesamtausgaben der GKV aus. Noch in diesem Jahr kommt es zu einer Kostenexplosion im Krankenhaus, wenn die Forderungen des Marburger Bundes für die Krankenhausärzte realisiert werden. Weder Krankenkassen noch Politik behaupten, daß im Krankenhausbereich irgend etwas nicht in Ordnung sei. Noch höhere Kostensteigerungen weisen die Arzneimittel auf. Mit 25 Milliarden Euro verursachten sie im vergangenen Jahr 16 Prozent der GKV-Ausgaben.

Mit dem am 1. Mai in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung wird es dadurch zu Einsparungen kommen, daß Ärzte auf Wunsch der Patienten mehr Generika verordnen. Schon heute liegt Deutschland an der Spitze der Generika-Verordnungen. Bei der Verordnung innovativer Arzneimittel ist Deutschland inzwischen westliches Schlußlicht. Bei den Ärzten ist nichts zu holen. Ihr Anteil an den GKV-Ausgaben hat sich von 23 Prozent im Jahr 1970 auf 14 Prozent im letzten Jahr verringert. Als 2004 die Tabaksteuer erhöht wurde, freuten sich die Krankenkassen. Die Einnahme von 4,2 Milliarden Euro wurde ihnen als Entlastung zugesagt. 2007 sollen es nur noch 1,5 Milliarden sein, von denen die dann 19prozentige Mehrwertsteuer etwa 0,9 Milliarden Euro aufzehrt.

Es wird schwer für die Politik sein, ein ausgewogenes Konzept der Entlastung für die Beitragszahler zu schmieden. Schließlich hilft auch nicht mehr die Drohung, es gebe zu viele Ärzte. Die Zulassung für die ambulante Versorgung der Patienten erfolgt durch GKV und Kassenärztliche Vereinigung gemeinsam. Die Kassen werben damit, daß sie eine flächendeckende und wohnortnahe Versorgung mit Vertragsärzten finanzieren. Mittlerweile wird nicht mehr von zu vielen Ärzten gesprochen, sondern von Ärztemangel (siehe Seite 12). Um den regionalen Ärztemangel und -überschuß auszugleichen, will die große Koalition das Vertragsarztrecht liberalisieren.

Die Beratung über eine Finanzreform der GKV, die für 2006 mit einem Defizit von fünf Milliarden Euro rechnet, ist ins Stocken geraten. Beitragserhöhungen wären die Folge. Schwammige Vorstellungen machen die Runde: Erhöhung der GKV-Beitragsbemessungsgrenze und die Einbeziehung der Privaten Krankenversicherungen in den Finanzausgleich der GKV. Das Korruptionsgespenst im Gesundheitswesen wird TID aber auch im nächsten Jahr eine Meldung wert sein.

Transparency International: Jahrbuch Korruption 2006 - Schwerpunkt Korruption im Gesundheitssektor, Parthas Verlag, Berlin 2006, broschiert, 400 Seiten, 29,80 Euro Internet: www.transparency.de 


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