© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Das Massaker von My Lai
Vietnam im März 1968: Über 500 Tote ließen die US-Soldaten zurück / Zur Aufklärung brauchte es viel Zeit
Ronald Gläser

Schon als der Folterskandal von Abu Ghraib bekannt wurde, fühlten sich viele US-Amerikaner an My Lai erinnert. Jetzt - da die Ausmaße des Massakers von Haditha bekannt werden - ist das vietnamesische Dorf erst recht wieder gegenwärtig.

Auch in Deutschland erinnert man sich. Der Kölner Stadtanzeiger fand heraus: "My Lai liegt im Irak". Die Welt verspürt einen "Hauch von My Lai". Und die Berliner Zeitung verband ihre Geschichte sogar mit einer prognoseartigen Aussage: "My Lai war der Anfang vom Ende des Vietnam-Kriegs".

Das Massaker von My Lai in der Provinz Qang Ngai fand im März 1968 auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges statt. Die Tet-Offensive der Vietcong lief. Die Amerikaner schlugen zurück. Die Provinz Qang Ngai galt als "Feuer-frei-Zone". Da sie als Hochburg der Vietcong angesehen wurde, setzte das Militär hier Bombardierungen und Artilleriebeschuß ein. Geschätzte 140.000 Einwohner hatten ihre Wohnung verloren und waren obdachlos.

Am 14. März 1968 lief eine Patrouille in Qang Ngai in eine Minenfalle. Wie im irakischen Haditha wurde ein beliebter Soldat, ein Sergeant, dabei getötet. Ein weiterer verlor sein Augenlicht, mehrere wurden weniger schwer verletzt. Rachegefühl machte sich unter den GIs breit.

In der Nacht zum 16. März erhielt Oberleutnant William Calley den Befehl, das Dorf My Lai anzugreifen und zu säubern. Ob der Befehl lautete, auch gegen Frauen und Kinder vorzugehen, konnte im nachhinein nicht eindeutig geklärt werden. Calley und seine Soldaten legten ihn jedoch entsprechend aus.

"Suchen und zerstören" hießen Einsätze wie dieser in der Sprache der GIs. Am Morgen des 16. März wurden drei Kompanien Infanteristen unweit von My Lai mit Hubschraubern abgesetzt.

Die Zivilisten müssen völlig nichtsahnend gewesen sein, schließlich nahmen sie die herannahenden Hubschrauber nicht als direkte Bedrohung wahr. Die Amerikaner vermuteten Vietcong in dem Dorf und durchkämmten es systematisch.

Die Operation verlief chaotisch. In Ermangelung von echten Vietcong trieben die GIs dann die Zivilisten zusammen und töteten sie. Es kam zu Vergewaltigungen. Bauern, Frauen, Greise wurden ins Freie gezerrt, ihre Hütten angezündet, die Bewohner erschossen. Über 500 Tote ließen die US-Soldaten zurück.

An die Vorgesetzten wurde gemeldet, bei dem Einsatz seien 128 Vietcong getötet worden. Doch echte Kombattanten waren wohl nicht unter den Toten. Auf der US-Seite gab es einen einzigen Verletzten: Ein Soldat hatte sich durch einen Schuß in den Fuß selbst verstümmelt.

Ein weiterer Soldat übte sich in Zivilcourage: Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson landete zwischen einer Gruppe von zehn Zivilisten und den GIs. Unter seiner Androhung, das Feuer auf die eigenen Leute zu eröffnen, ließen diese von den Vietnamesen ab.

Unter den Infanteristen befand sich ein Kriegsberichterstatter, der heute als "embedded journalist" (eingebetteter Journalist) gelten würde. Ronald Haeberle dokumentierte "My Lai" mit seiner Kamera. Er war als Reporter für die Soldatenzeitung Stars and Stripes an Ort und Stelle.

Doch nach dem Massaker machten diese Zeugen wider Willen zunächst die Erfahrung, daß sich niemand dafür interessierte: Weder der Hubschrauberpilot Hugh Thompson erreichte mit seinem Protest etwas noch der Journalist Ron Haeberle mit seinen Bildern. Die achtzehn Farbbilder, die er einbehalten hatte, wurden als Vietcong-Lügenpropaganda abgetan.

Langwierige Ermittlungen innerhalb der Militärs

Erst die Proteste weiterer US-Soldaten, langwierige Ermittlungen innerhalb des Militärs, unter ihnen der spätere US-Außenminister Colin Powell, und die Recherchen von Seymour Hersh, der später auch Abu Ghraib aufdecken sollte, brachten die Wahrheit ans Licht.

Ende 1969, fast 21 Monate nach dem Massaker, wurde der Vorfall einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Hersh schrieb, viele der Soldaten hätten "im März 1968 die Hemmschwelle zur brutalen Gewalt hinter sich gelassen". Amerika war schockiert, das US-Militär diskreditiert, Seymour Hersh prämiert - mit dem Pulitzer-Preis.

Das offizielle Amerika reagierte auf die Berichterstattung mit einer weiteren Untersuchung. Die Nixon-Regierung, die noch kein Jahr im Amt war, veranlaßte eine weitere Geheimuntersuchung durch das Pentagon. William Peers wurde damit beauftragt. Der General erstellt den Peers-Report, nachdem er fast vierhundert Zeugen befragt hatte. Darin finden sich schwere Anschuldigungen gegen etliche US-Soldaten unter anderem wegen Mord, Vergewaltigung und anschließender Vertuschung.

Rekruten, die bereits aus dem Dienst ausgeschieden waren, wurden von der US-Militärjustiz grundsätzlich nicht mehr zur Rechenschaft gezogen. Dies betraf viele der an dem Massaker von My Lai Beteiligten. Gegen zwei Dutzend Soldaten wurde jedoch Anklage erhoben.

Sie kamen fast alle davon. Nur Calley, der Befehlshaber vor Ort, kam vor ein Kriegsgericht und wurde auch verurteilt. Hugh Thompson und Ronald Haeberle machten eine Aussage über das Massaker und die Rolle des Kommandeurs.

Die Verteidigung stützte sich auf zwei Punkte: Erstens habe Calley in der Streßsituation den Überblick verloren. Und zweitens: Schließlich habe der 24jährige nur auf Anweisungen von oben gehandelt. Diesen Punkt konnte die Verteidigung jedoch nicht beweisen. Der Angeklagte sagte zudem noch aus, nie über die Genfer Konventionen unterrichtet worden zu sein.

Calley erhielt lebenslange Zwangsarbeit. Nach über drei Jahren wurde er aber von Präsident Nixon begnadigt. Er wurde unter Hausarrest gestellt und ist inzwischen ein freier Mann. Calley, der an diesem Donnerstag 63 wird, betreibt ein Juweliergeschäft.


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