© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Im Angesicht des neuen Mittelalters
Institut für Staatspolitik: Krise als Herausforderung / "Ausstieg aus der Globalisierung" / Hochkarätig besetztes 11. Berliner Kolleg
Wolfgang Saur

Die Herausforderung der Krise hat das in Schnellroda in Sachsen-Anhalt ansässige Institut für Staatspolitik stets umgetrieben und beschäftigt. Auch das Berliner Kolleg am vergangenen Samstag kam dringlich auf Krisenaspekte zurück - diesmal unter dem Stichwort eines "neuen Mittelalters".

Der mögliche "Crash" des globalen Markts, Schuld und Täter, knallige Tiraden aus der libertären Provokationsschleuder wären Reizthemen genug gewesen. Doch hatte der Historiker Karlheinz Weißmann sich noch zu einem Einführungsvortrag entschlossen, mit dem er seinen Koreferenten einen wohlüberlegten Horizont aufspannte. Seine Besinnung profilierte drei Modelle, Begriffstraditionen zum Mittelalter, seit dem 18. Jahrhundert: als kulturell-religiöse Idee, als polemischen Antiaffekt, als politisch aktuellen Kommentar.

Die Romantiker haben das christliche Mittelalter entdeckt. Als Identitätsmodell und kulturelles Ideal löste es die Antike ab. Als eschatologische Idee entwarf es die Vision vom neuen Gottesreich. Zyklisches Geschichtsdenken formulierte hier dialektisch: nach Einheit, dann Entzweiung, würden Glaube und Wissen, Gott und Welt vereint menschliche Entfremdung enden. Die zwanziger Jahre sahen ein romantisches Revival mit Rationalitätskritik, Neuer Religiosität, Gemeinschaftsidee, Fernöstlichem. Prominent hierbei: das ständische Denken, etwa in Othmar Spanns "universalistischer" Ganzheitslehre. Zuletzt trat der Mittelalterbezug auf im Abendlanddenken nach 1945. Ereignisse wie das Kölner Domjubiläum (1948) gaben Gelegenheit, eine Kulturkritik zu knüpfen, die den totalitären Bazillus als ubiquitär modern erwies.

Unverdrossen erhielt sich daneben die Mittelalterpolemik als "Drohvokabel" radikaler "Aufklärer". Sie präferiert ein Fortschrittsmodell der Geschichte, das aggressiv die "Unumkehrbarkeit" lehrt, Zyklen und Spiralen aber verwirft. Gegen seine Vertreter wenden sich Analytiker, die heute Tendenzen zu einem "neuen Mittelalter" ausmachen, was jetzt die Depotenzierung etatistischer Politik meint: Zerfall von Staatlichkeit, Aufstieg neuer Machtakteure, Gewaltdiffusion. Zunehmend schachern lobbyistische Minderheiten im sozialen Wettbewerb um Machtchancen. Allerdings verdankt sich ihr polemisches Medium, der Antidiskriminierungsdiskurs, noch dem universalistischen Paradigma. Dessen dualistisches Potential und Radikalisierungstendenz hat die Aufklärung entdeckt, schöpft aber die Gegenwart richtig aus. Das leistet der Opfer-Täter-Code, der im Verein mit einer säkularen Schuldtheologie das Legitimitätsproblem eskaliert. Dies ist das Thema Paul Gottfrieds (Pennsylvania), der Thesen seines Buchs "Multikul-turalismus und die Politik der Schuld. Unterwegs zum manipulativen Staat?" vorstellte.

Trivialisierung des Sozialen als Erblast

Verfallen die klassischen Kompetenzen des Staats, so wird er effektiv als "therapeutisches Verwaltungsregime". Gottfried analysiert dessen Dynamik und aggressive Stoßkraft als "Verschmelzung eines opferzentrierten Feminismus mit den protestantischen Vorstellungen von Sünde und Erlösung zu politisch-korrekten Martyrologien". Politisch versorgt die nachreligiöse "Kreuzestheologie" ihre Verwalter nicht bloß mit Tugend, sondern mit Macht, treten an Stelle göttlicher Gnade und Versöhnung doch "Schuld" und "Vergebung" als sozialpolitische Größen.

Implizit religiös das Denken der Libertären, die einen eloquenten Anwalt fanden in Hans Hoppe (Las Vegas). Der warb für "Kraft durch Freiheit - Ein Plädoyer für befreite Zonen" - auf der Linie seines Werks zur "Demokratie. Der Gott, der keiner ist". Analytisch fällt die Herkunft seiner Position aus englischem Liberalkapitalismus auf, durch individualanarchistische Motive amerikanisch verschärft. Politisch fällt auf als größte Erblast: die Trivialisierung des Sozialen.

So zeigt sich Hoppe als später Vertreter "pluralistischer Staatstheorie", die nur Interessengruppen kennt, "Gesellschaft" idealisiert als natürliche Harmonie und Tugend, den Staat indes verdammt. Völlig fehlt hier die "sittliche Idee" vom Staat als der "Wirklichkeit des substantiellen Willens", als zur "Allgemeinheit erhobenem Selbstbewußtsein" (Hegel). Kennt man nur die gesellschaftliche Immanenz egoistischer Privatleute, wird eine überzeugende Konstruktion von Staatlichkeit schwierig.

Relativ ergiebig bleibt solche Perspektive freilich angesichts oligarchischer Kastenbildung, gar des "totalen Parteienstaats", der staatliche Integrität als autonomes Prinzip auslöscht.

Polemisiert wurde viel gegen die "Sozialfunktionäre". So vehement bei Eberhard Hamer (Hannover): "Ist der Crash noch abwendbar? Thesen zur globalen Wirtschaft". Hamer geißelte den internen Sozialfeudalismus mit seinen "Korruptionssystemen" ebenso wie den "Riesenbluff" des globalen Marktes. Die Flucht in Sachwerte kündige den Crash an, eine neue Weltwirtschaftskrise stehe bevor. So fordert er den "Ausstieg aus der Globalisierung" und - am Ende der Singlegesellschaft - Solidarität durch neue Leitbilder und Gemeinschaftsbildung.

Wie sehr Gemeinschaft und ideelle Programmatik ineinanderspielen, verdeutlichte Weißmann, der die Hoffnung aussprach, daß - sollten Deutschland Zusammenbrüche nicht erspart bleiben - diese den leidigen "Sonderweg" wenigstens in seine schöpferische Variante umwendeten, um deutsche Identität aus Verschüttung ans Licht und uns mit uns selbst wieder zusammenzubringen.


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