© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

Der Feind des Opportunismus
Generalleutnant a.D. Franz Uhle-Wettler bietet eine Rückschau auf fünfzig Jahre Bundeswehr aus seiner persönlichen Perspektive
Manfred Backerra

Sehr kennzeichnend für Franz Uhle-Wettler ist eine zivile Begebenheit gegen Ende des Buches. Als Generalleutnant und Kommandeur des Nato Defense College soll er den Oberbürgermeister von Rom bei seinen Antrittsbesuchen auslassen, denn der ist Kommunist. Doch als Repräsentant der Wehrhaftigkeit westlicher Demokratien erweist er dem demokratisch gewählten Stadtoberhaupt seine Reverenz, statt sich quasi totalitärem Gesinnungsdiktat zu beugen - Einheit von Wort und Tat. Dies erfährt man ohne besondere Erläuterung aus dem Zitat eines Briefes über das angeregte, lange Gespräch mit dem Sachwalter der Ewigen Stadt, der gerade das große Mussolini-Denkmal vor dem Olympiastadium reinigen, die Inschrift "Mussolini-Dux" neu vergolden läßt und die Deutschen wegen ihrer 120prozentigen Vergangenheitsbewältigung bedauert.

Der vom Verlag gewählte Titel insinuiert, das Buch sei eine Geschichte der gerade fünfzig Jahre alt gewordenen Bundeswehr, zumal der General wegen besonders lehrreicher, unzeitgeistiger Werke über die deutsche Militärgeschichte bekannt, deshalb nicht nur in der Bundeswehr persona non grata ist. Dies ist es aber ausdrücklich nicht. Es ist "die Innenansicht eines Mannes ..., der 1956 als 29jähriger wieder die Uniform anzog", nachdem er vom 15. bis zum 20. Lebensjahr Flakhelfer, beim Reichsarbeitsdienst, Seekadett und Kriegsgefangener gewesen war. Er hatte als Bergarbeiter-Werkstudent Geschichte in Marburg, als Fulbright-Stipendiat in den USA, dann, per Fahrrad dorthin gelangt, in Indien studiert, war zu Pferd durch Afghanistan und Ostpersien zurückgekehrt und in Marburg promoviert worden.

An diesem unkonventionell harten Brocken, der scharf analysiert, fragt und urteilt, hatte das - vielfach politisch bedingt - mangelhaft organisierte und geführte neue Heer erheblich zu würgen. Doch der selbstgewählt steinige Weg des Verfassers ist nicht sein Thema. Er zeigt anhand seiner Erfahrungen als Kompaniechef, Generalstäbler in Truppenkommandos, dem Ministerium, dem Hauptquartier der Nato in Europa sowie als Brigade- und Divisionskommandeur, welch mühsamen Aufstieg das Heer zu einer kampfkräftigen Truppe zu bewältigen hatte und wie bald auch wieder der Niedergang des militärischen Könnens einsetzte. Dazu schildert und urteilt er nicht klug und mutig aus der Rückschau, sondern läßt seine ausführlichen Briefe an Familie und Freunde sowie dienstliche Dokumente aus der Zeit sprechen, nur durch knappe Situationsangaben und Kommentare ergänzt.

So werden Weg und Probleme der Bundeswehr bis zu seiner Verabschiedung 1987 und darüber hinaus vor allem aus der Sicht eines Truppenoffiziers authentisch klar erkennbar oder doch erahnbar. Es ist der Blick durch ein Vergrößerungsglas. Denn die Kampftruppe des Heeres ist im Vergleich zu den anderen Streitkräften durch Auftrag und entsprechende Mentalität der Vorgesetzten am stärksten soldatisch ausgerichtet - bis hin zum Tonfall, den der Rezensent, wenige Jahre nachdem er als Heeresleutnant zur Luftwaffe gegangen war, als unnötig barsch empfand.

Um wirklich kampffähig zu werden, bedarf diese Truppe einer vom zivilistischen Umfeld besonders abweichenden, viel militärspezifisches Können verlangenden Ausbildung sowohl des Soldaten wie auch der Einheiten und Verbände. Doch viele Jahre mangelte es qualitativ und quantitativ an entsprechenden Offizieren und Unteroffizieren, fehlten simpelste Versorgungsgüter (selbst Putzdochte), und vor allem waren mangels Ersatzteilen nur wenige Kampffahrzeuge einsetzbar; außerdem erschwerte eine realitätsfern verfaßte Innere Führung mit ihren Auswüchsen den Dienst. So ist es nur dem weidlich ausgebeuteten Idealismus und Pflichtbewußtsein (Worte, die der Autor nie verwendet) von Führern, Unterführern und, dies wird besonders gewürdigt, dem Leistungswillen der Wehrpflichtigen in der Truppe zu verdanken, daß sie sich das Ansehen erwarb, das ihr die Armeen beider Weltkriege als Verpflichtung hinterlassen hatten.

Doch bald schon wieder tritt das Ziel Kampfkraft hinter allerlei gesellschaftspolitischen Forderungen zurück, die durch militärfremdes Studium und eine Masse von theorielastigen Laufbahn- und sonstigen Lehrgängen und Weiterbildungen der Truppe Führer und Unterführer entziehen und diese davon abhalten, das für die Kampftruppe nötige Wissen und Fertigkeiten zu erwerben. Es spricht Bände, wenn es Glückssache ist, daß alle Panzer einer Kompanie in jeder Hinsicht gefechtsklar marschieren, wenn Offiziere nicht wissen, wie viele Granaten sie mitführen, wenn sie die MG-Handhabung im Waldkampf nicht beherrschen, wenn bei strahlender Sonne oder in sternklarer Nacht Soldaten, selbst ein Kompaniechef, nicht ohne Kompaß die Himmelsrichtungen bestimmen können, wenn der Chef nicht die Namen seiner Soldaten kennt.

Es gibt wohl kein die Kampffähigkeit berührendes Problem bezüglich der geistigen Grundlagen, der Menschenführung, der Führung in Gefecht und Operation, der Ausbildung und der Ausrüstung, das der Autor nicht durch klare Feststellungen und Verbesserungsvorschläge oder Forderungen in Eingaben, Weisungen und Befehlen sehr praktisch und in erfrischend unkompliziertem Ausdruck anspricht.

Nur mit Zorn kann er konstatieren, daß in der Bundeswehr ein nichtspringender Kommandeur der Luftlandedivision oder einer Luftlandebrigade möglich ist, während beim US-Luftlandekorps sogar der Kommandierende General einem übenden Bataillon voranspringt, oder daß ihm aus persönlichen Gründen für ein Rohrartilleriebataillon ein fachlich eher ungeeigneter Soldat der Raketentruppe aufgedrängt wird.

Die vielfach übermäßige Dienstzeitbelastung im Truppenalltag ist dem Autor bewußt, er lobt auch namentlich besonders engagierte Feldwebeldienstgrade. Doch vermißt der Rezensent motivierende Lösungen, wie sie beispielsweise in Geschwadern und Raketenverbänden der Luftwaffe getroffen wurden, bevor es zu einem öffentlichen Aufschrei mit dummen Folgen kam.

Mit Freude berichtet der Autor namentlich von Vorgesetzten und Untergebenen, oft Ritterkreuzträgern, die militärisch und menschlich sowie in ihrer noblen Haltung Vorbilder und Stütze waren. Die schlechten, oft auch charakterlosen Beispiele fallen dagegen besonders ab, bleiben aber natürlich namenlos. Eine Ausnahme bildet der "heilige Baudissin", der, früh in Gefangenschaft (1941 in Nordafrika) geraten und dort - ohne jemals Truppenführer gewesen zu sein - routinemäßig zum Major befördert, sich später als einziger in der neuentstandenen Bundeswehr zwei Dienstgrade höher als Oberst einstellen ließ. Dessen politisch wirksame Lehren enthüllt Uhle-Wettler engagiert, aber rational als soziologisch schaumgeschlagene Banalitäten, die er in ihren praktischen Auswirkungen als sehr schädlich für Disziplin und Kampffähigkeit ausweist.

Es ist überhaupt ein Vergnügen, seiner nüchtern faktischen Argumentation zu folgen, mit der er Bundeswehr-Gewißheiten als tatsachen- oder zielwidrige Phrasen entlarvt: Der Mensch stehe im Mittelpunkt, heute sei alles viel komplizierter als in früheren Zeiten ... Neben der notwendigen Panzerlastigkeit des Heeres oder der Bevorzugung von Generalstäblern gehört dazu auch die Mär von der am besten in die Gesellschaft integrierten deutschen Armee, in der in den letzten Jahrzehnten kaum noch ein Politiker oder Meinungsmacher Wehrdienst geleistet hat. In seinen Urteilen paart sich unverblendetes Denken trefflich mit Folgerungen aus profunder Geschichtskenntnis.

Der Leser erfährt, warum innovative Vorschläge in der Großorganisation Bundeswehr chancenlos sind, wie schwer sich deutsche Offiziere ohne klar definierte nationale Zielvorstellungen in der Nato im Vergleich zu brachialen Amerikanern und listigen Briten taten und wie sie dennoch mit persönlichem Engagement und Geschick vor allem dafür kämpften, Deutschland vor dem atomaren Schlachtfeld zu bewahren. Das Buch ist nützlicher als ein Geschichtsbuch, das Fakten wiedergibt. Es ist ein Lehrbuch für konsequent auftragsbezogenes Denken und Handeln inmitten eines Meeres (Sumpfes) opportunistischer Verlockungen. Für Zeithistoriker ist das Buch eine Fundgrube, für Offiziere und Politiker, die sich mit Wehrpolitik befassen, sollte es Pflichtlektüre sein, zivile Führungskräfte können daraus viel lernen.

Foto: Uhle-Wettler als Kommandeur der 5. Panzerdivision, 1983: Die Mär von der am besten in die Gesellschaft integrierten deutschen Armee

Franz Uhle-Wettler: Rührt Euch! Weg, Leistung und Krise der Bundeswehr. Ares Verlag, Graz 2006, gebunden, 216 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro


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