© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

Börsenreform statt Börsenfusion
Finanzmarkt: Der Reinfall der Frankfurter Börse könnte zum Glücksfall für die Mittelstandsfinanzierung werden
Wilhelm Hankel

Der abrupte Ikarusabsturz Frankfurter Börsenhöhenflieger - erst ihr vergeblicher Versuch, mit der London Stock Exchange (LSE) die älteste Börse der Welt zu kaufen, und als nächstes die im Jahr 2000 neugegründete "Mehrländerbörse" Euronext - steht nicht nur für Größenwahn und eine kaum faßliche Überschätzung der eigenen Mittel und Möglichkeiten.

Die Börsenmanager und die ihre Pläne forcierenden Aufsichtsratsmitglieder und Bankenchefs riskieren ja nicht ihr Geld, sondern das ihrer Aktionäre und Anleger. Die Vorstellung, Deutschlands führenden Börsenplatz zum Zentrum der Weltfinanzen auszubauen, enthüllt mehr als eine fatale Verkennung von Realitäten. Sie zeigt, wie wenig die am Finanzplatz Frankfurt versammelte Spitzenmannschaft der deutschen Hochfinanz den eigentlichen Auftrag und die volkswirtschaftliche Funktion und Verantwortung der Börse wahr- und ernst nimmt.

Kein Tummelplatz für Spekulanten

Die Börse, ein von einem Staatskommissar als Aufsichtsorgan und "Referee" überwachter öffentlicher Kapitalmarkt, ist weder ein Instrument für die Strategien und Positionskämpfe "globaler Spieler" noch ein Tummelplatz für Geldabenteurer und Spekulanten. Sie ist der seriöseste, weil in eine feste Ordnung eingebundene Kapitalmarkt der Volkswirtschaft mit dem Auftrag, das Geld der Sparer und Anleger an das reale Produktivkapital der Nation heranzuführen und für seine Entwicklung nutzbar zu machen.

Die Börse verkörpert das marktwirtschaftliche Gegenbild zum "Volkseigentum" des realen Sozialismus. Während dieser den Kapitalstock der Volkswirtschaft verstaatlichte mit den bekannten Folgen und dafür auch noch die wenigen Spargroschen der kleinen Leute abschöpfte und ihnen jeden Anspruch auf Eigentum und Mitsprache verweigerte, garantieren Börse und Kapitalmarkt in unserer Gesellschaft genau dieses: das Miteigentum und das Mitbestimmungsrecht der Sparer und Anleger am Entscheidungsprozeß der Unternehmer und Manager. Doch von solchen (durch Gesetze geschützten) Aktionärsrechten bleibt nicht allzu viel übrig, wenn Firmensitze und Entscheidungszentren ins Ausland verlagert werden, wo andere Gesetze gelten und andere Sitten herrschen - wenn es überhaupt welche gibt.

Genau das ist ja das Fatale an der "Globalisierung", daß sie die bewährten und oft mühsam erkämpften Schutzrechte des Bürgers, Arbeitnehmers und eben auch des Sparers durch Wegzug oder Übernahme einer anderen Rechts- und Sozialordnung (oder gar keiner) einschränkt oder beseitigt. Das gilt auch für eine Börse, die durch Fusion mit einer anderen ihre Regeln, Rechte und Usancen verändert, ihren Standard dem woanders üblichen anpaßt, im Klartext: absenkt.

Daß Deutschlands Börsenaufsicht und Kapitalmarktpolizei diesem Trend und seinen Folgen stumm und tatenlos zusieht, ist das eine. Nicht minder folgenreich ist, daß mit der Öffnung der deutschen Börsenlandschaft für die Globalisierung ein Problem verschärft wird, das den Standort D zunehmend stärker belastet und einer der Hauptgründe für Fortdauer und Resistenz der deutschen Wirtschafts- und Arbeitsmarktmisere ist: die Zweiteilung des Unternehmenssektors in emissionsfähige und nicht emissionsfähige Unternehmen.

Die nicht eben mit hoher Sachkompetenz ausgestattete Wirtschaftspolitik dieses Landes ist auf beiden Augen blind für die Tatsache, daß weit über 90 Prozent der deutschen Unternehmen überhaupt keinen Direktzugang zu Kapitalmarkt und Börse haben: Sie sind zur Finanzierung ihrer Investitionen auf den Bankkredit angewiesen.

Der aber ist im Schnitt hundert und mehr Prozent teurer als die Mittelbeschaffung über Wertpapieremissionen an der Börse.

Deutschland, als Volkswirtschaft Exportweltmeister und eines der höchstindustrialisierten Länder der Erde, verfügt dennoch über den kürzesten Aktienkurszettel. Nur einige hundert Unternehmen sind gelistet, und die Masse der Börsenumsätze spielt sich in weniger als einer Hundertschaft der größten und bekanntesten Unternehmen der DAX- und M-Dax-Familie ab. Der Mittelstand, das vielzitierte Rückgrat der deutschen Wirtschaft - er stellt zwei Drittel aller Arbeits- und vier Fünftel aller Ausbildungsplätze -, hängt von der Kreditbereitschaft der Banken und ihren gerade in dieser Krise viel zu hohen Kreditzinsen (zwischen sieben und 13 Prozent) ab.

Statt hier anzusetzen und die Börse mittelstandsoffen und den Mittelstand börsenfähig zu machen - ein Versäumnis aller Bundesregierungen seit Mitte der siebziger Jahre -, wird der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sogar erlaubt, im Basler Ausschuß für Bankenaufsicht Regeln zu beschließen, deren Sinn und Zweck darin besteht, die Bankwelt vor ihren Kunden zu schützen und den Mittelstandskredit durch Überwälzung der Kreditrisiken nachhaltig zu verteuern (Eigenkapitalvorschriften "Basel II"). Wen wundert es, daß der Mittelstand angesichts dieser Banken- und Börsenpolitik in den Kredit- und Investitionsstreik tritt.

Was nottut, ist nicht die Öffnung der Börsen für Auslandsengagements und Spekulation, sondern für die Mittelstandsfinanzierung aus dem Inland. Das deutsche Sparpotential ist groß genug, um die Kapitalbeschaffung für diesen für die deutsche Volkswirtschaft wichtigsten aller Sektoren zu sichern und zu verbilligen.

Damit wäre allen geholfen: der Konjunktur, dem Arbeitsmarkt und dem Sparer. Die Banken bekämen wieder verläßliche und weniger spekulativ orientierte Inlandskunden. Frankfurts blamabler Fusionsflop sollte einmal mehr Anlaß sein, über einen konstruktiven Beitrag von Banken und Börsen zur Überwindung der deutschen Wirtschaftsmisere nachzudenken.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war bis 1967 Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau, danach leitete er als Ministerialdirektor die Abteilung "Geld und Kredit" im Wirtschafts- und Finanzministerium unter Karl Schiller (SPD). Später wurde er Präsident der Hessischen Landesbank. Seit 1967 lehrt er Währungs- und Entwicklungspolitik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

 

Frankfurter Börse: Der Mittelstand ist auf Bankkredite angewiesen


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