© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

Massenphänomen
Mit der Armut leben lernen: Zur Diskussion um Hartz IV
Bernd-Thomas Ramb

Der Streit innerhalb der schwarz-roten Koalition um das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) basiert auf der Meinungsverschiedenheit, ob eine grundlegende Reform notwendig ist oder Verbesserungen des bestehenden Systems ausreichen. Dabei steht - zumindest für die Regierung - allein fest, daß es so nicht weitergehen kann. Die Ausgaben für Hartz IV, die Zusammenlegung der vormaligen Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe, übersteigen bei weitem die früheren Gesamtausgaben für die beiden Einzelhilfen. Die Vermittlung der Arbeitslosen in feste Beschäftigungsverhältnisse stagniert dagegen nach wie vor. Hartz IV stellt sich aus gesamtwirtschaftlicher Sicht als teuer und ineffizient dar.

In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat der Bund bereits 9,2 Milliarden Euro an Arbeitslosengeld II ausgezahlt. Das sind nach den Berechnungen des Bundesfinanzministeriums fast 1,4 Milliarden mehr als im Vergleichzeitraum des Vorjahrs. Außerdem stiegen die Zuschüsse, die der Bund für Miete und Heizkosten an die Kommunen zahlen muß, um 30 Prozent auf 1,308 Milliarden Euro. Insgesamt hofft Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) den zusätzlichen Finanzierungsbedarf in diesem Jahr auf drei Milliarden Euro begrenzen zu können. Für das kommende Jahr zeichnet sich jedoch eine noch größere Lücke ab.

Die SPD als politischer Vater des Systems glaubt an die Besserung des mißratenen Kindes durch schärfere Kontrolle des Mißbrauchs. In der Tat hat die formelle Auflösung von "Bedarfsgemeinschaften", also die Zersplitterung des Familienbundes aus arbeitslosem Vater mit Ehefrau und erwachsenen Kindern in entsprechend viele Einzelhaushalte, die Sozialzahlungen explosionsartig anwachsen lassen.

Daß die Sozialhilfe den Auszug der Kinder aus der Elternwohnung künftig nicht mehr voll finanzieren will, wird sowenig helfen wie die verschärfte Überprüfung des übrigen Gestaltungsspielraums. Geändert werden müssen nicht nur die Verwaltungsvorschriften, sondern das Gesetz selbst - wenn ernsthaft gespart werden soll.

Ein Hauptproblem ist die Tatsache, daß die Sozialhilfe im Vergleich zur Beschäftigung im Niedriglohnsektor immer noch viel zu hoch ist. Ein verheirateter Arbeitsloser mit zwei Kindern kommt mit ALG II und Wohngeld auf eine monatliche Unterstützung, die einem Bruttolohn von 1.600 Euro entspricht. Auf den Stundenlohn umgerechnet kommen da 9,42 Euro heraus, mehr als die Mindestlohnforderung der Gewerkschaften. Vielfach sind aber die entsprechenden Arbeitslosen nicht mehr in so hochbezahlte Arbeitsplätze vermittelbar. Umgekehrt fehlt der Anreiz, sich um einen Arbeitsplatz zu bemühen, der möglicherweise ein geringeres Einkommen bedeutet als die arbeitsfreie Sozialhilfe. Insbesondere die Wirtschaftsverbände fordern deshalb eine Senkung der Sozialhilfezahlungen.

Die Wohlfahrtsverbände halten diese Forderung für "völlig unverantwortlich". Ein lediger Arbeitsloser bezieht (in den alten Bundesländern) 345 Euro monatlich. Auch wenn die Mietzahlung voll vom Amt übernommen werden - dieser Betrag treibt, so der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV), die Menschen in soziale Not. Er fordert daher eine Anhebung des Regelsatzes um 20 Prozent auf 415 Euro. Bezeichnenderweise beklagt der DPWV, daß bei der jüngsten Regelsatzberechnung Kürzungen bei einzelnen Ausgabepositionen vorgenommen wurden, die nicht vertretbar seien und mit dem tatsächlichen Bedarf der Betroffenen nichts zu tun hätten. Damit sei nicht einmal ein Rest an gesellschaftlicher Teilhabe möglich: "Ausgaben für Kinderbetreuung und Nachhilfeunterricht oder Kursgebühren sind völlig unter den Tisch gefallen."

Genau da liegt die Wurzel des Übels. Den Sozialhilfeempfängern wird ein Maß an "tatsächlichem Bedarf" zugebilligt, das schlicht nicht mehr finanzierbar ist. Armut wegen Arbeitslosigkeit ist unvermeidbar, und es gilt vornehmlich, die Härten gerecht zu verteilen. Die sture Forderung nach Anhebung der Ostsozialhilfesätze auf Westniveau ist diesbezüglich mehr als destruktiv. Im Gegenteil, es muß noch stärker regional und individuell differenziert werden. Im Saarland oder in Brandenburg sind die Lebenshaltungskosten nun einmal andere als in Sachsen oder Hessen. Sozialhilfeempfänger, die im eigenen Garten Obst und Gemüse ernten oder durch andere Eigenleistungen zu ihrem Lebensunterhalt beitragen können, bedürfen einer geringeren finanziellen Unterstützung.

Das Lebenshaltungsniveau ist in den nächsten Jahren generell einer sinkenden Tendenz ausgesetzt. Rentner müssen Abstriche hinnehmen, die Arbeitseinkommen stehen unter internationalem Senkungsdruck, Vermögenseinkommen werden durch Geldentwertung aufgezehrt. Zudem steht die Finanzierung der Staatshaushalte durch weitere Schulden vor dem Aus, und weitere Steuererhöhungen sind nur noch begrenzt durchsetzbar. Armut wird also nicht nur die Sozialhilfeempfänger treffen, sondern zum Massenphänomen. Wäre es da moralisch vertretbar, wenn ALG-II-Empfänger besser gestellt wären als einer, der keine staatliche Unterstützungszahlung erhält?


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