© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/06 19. Mai 2006

Unzureichende Täterbeschreibung
Heinrich Breloers Biographie über Albert Speer demontiert dessen eigene Nachkriegsdarstellung, ohne konkret werden zu können
Stefan Scheil

Wer über bestimmte Personen aus eigenem Antrieb eine Akte anlegt, der hat oft nichts Gutes vor. Gerade aus den totalitären Zeiten kennt man die Akte als Geheimwaffe gegen politische Gegner, stets zur Hand, um zum richtigen Zeitpunkt aus der Tasche gezogen zu werden. Die "Akte Speer", die Heinrich Breloer nun vorgelegt hat, so heißt es im Untertitel, sei die Akte eines Kriegsverbrechers. In der Tat ist Albert Speer rechtskräftig zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden, so daß es an der Wortwahl nichts auszusetzen gibt. Dennoch wird sie hier nicht ohne weiterführende Absicht vorgebracht. Ungeachtet seiner Haft genoß Speer im öffentlichen Leben der Bundesrepublik wegen seines reuigen Verhaltens im Nürnberger Prozeß zeitlebens eine Art Kronzeugenstatus. Er galt, wie Breloer einleitend schreibt, als "geläuterter Edel-Nazi". Speer wirkte als ein anständiger Bürger, der lediglich zu nah in den Bereich der Macht gekommen war. Obendrein fand er einen einflußreichen, wenn auch ungelernten Historiker wie Joachim Fest, der diese Version multiplizieren half und ihr den Stempel geprüfter Glaubwürdigkeit verlieh.

Speers Glaubwürdigkeit hat nach seinem Tod deutlich gelitten, sie soll nun insgesamt zerstört werden. Was dazu von Biographen wie Gitta Sereny und nun Breloer herbeizitiert wird, ist von recht unterschiedlicher Qualität. Breloer räumt ein, obzwar "mit allen deutschen Filmpreisen ausgezeichnet", kein Fachhistoriker zu sein, und erhebt ehrlicherweise auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er spricht vom Umrißskizzen. Dazu zieht er Bilder und Dokumente zu zahlreichen Punkten aus Speers Leben herbei, geht auf den Architekten ein, den Rüstungsminister, den Büßer und die Nachkriegsauseinandersetzungen um den möglichen Fälscher.

Speer erwies sich in diesen Affären als durchsetzungsfähig, wie man modern sagen würde. Er förderte erfolgreich, was ihm richtig schien, verschleppte, was er für falsch hielt, gab nach, wo unverzichtbare Interessen gefährdet waren, und schob Verantwortung ab, wo immer er Probleme witterte. Menschliche oder kollegiale Rücksichten warf er dabei gelegentlich über Bord.

Insgesamt entsteht im Buch dennoch ein zu einseitiges Bild. Wurden Breloers Film und die zugehörige Dokumentation noch von Zeitzeugen wie dem gleichnamigen Sohn Albert Speers getragen, der mit Distanz, aber nicht ohne Wohlwollen, vor allem aber ohne larmoyanten Unterton sagte, was zu sagen war, so fehlt dieser Abstand in der "Akte". Es wird genommen, was geeignet scheint, Speer zu diskreditieren.

Zwei Beispiele für die etwas weniger gelungenen Skizzen seien genannt. Anders als Speer in seinen Erinnerungen schreibt, könne es am Tag seiner Geburt keinen Gewitterdonner gegeben haben, von dem das Geläut der Mannheimer Christuskirche übertönt worden sei, heißt es im Buch. Gewitter habe es erst nachmittags gegeben, und die Christuskirche sei erst später fertiggestellt worden. Einmal abgesehen von der begrenzten Relevanz dieser Feststellung für das Gesamtbild eines "Kriegsverbrechers", geht dies an der Sache vorbei. Wie jeder andere Neugeborene konnte Speer lediglich schreiben, was seine Mutter ihm zu dieser Sache erzählt hatte, und daß die junge Mutter die Geburt ihres Sohns an einem nachweislich gewittrigen Sonntag des Jahres 1905 verbunden mit Donner und Kirchengeläut in Erinnerung behalten haben kann, sollte auch dem gehässigeren Betrachter nicht unmöglich scheinen.

Ein weiteres Beispiel ist die Reichskanzleiaffäre. Speer soll die Unwahrheit gesagt haben, als er in seinen Memoiren behauptet hätte, die Neue Reichskanzlei in Berlin in weniger als einem Jahr entworfen und gebaut zu haben. Neu gefundene Pläne, die bereits aus dem Jahr 1937 datieren, etwa ein halbes Jahr vor der Auftragserteilung durch Hitler im Januar 1938, würden dies beweisen. Nun hat Speer in seinen Erinnerungen jedoch gar nicht geschrieben, er habe Pläne neu entwerfen müssen, sondern im Gegenteil ausdrücklich festgehalten, sie seien lediglich "fertigzustellen" gewesen, der Luftschutzbunker "sogar aus Handzeichnungen". Es liegt nicht an Speer, wenn sich manche Biographen trotzdem nicht zur Schlußfolgerung imstande sehen, daß gezeichnete Pläne für den Rest des Gebäudes bereits vorhanden waren, als er das Startsignal für den Baubeginn erhielt. Hitler sagte bei der Einweihungsrede im Januar 1939 ebenfalls ausdrücklich und öffentlich, der Bau sei vor der Auftragserteilung in "zahlreichen Besprechungen" mit Speer "gedanklich behandelt" worden.

Natürlich spart die "Akte Speer" den heikelsten Punkt in seiner Biographie nicht aus, den Genozid an den europäischen Juden. Obwohl eingangs ausdrücklich betont wird, der Leser solle sich selbst ein Bild machen, werden die Herausgeber hier deutlich. Breloer räumt ein, daß es kein Zeugnis gibt, "das ihn gleichsam direkt an den Gaskammern zeigt", was letztlich bedeutet: Es fehlt sechzig Jahre nach Kriegsende und nach ungezählten Recherchen von allen Seiten weiterhin der "rauchende Colt", der Beweis, daß Speer während des Krieges über den Judenmord Bescheid wußte. Dennoch erklärt Breloer das Mitwissen des Allgewaltigen über die deutsche Kriegswirtschaft als "über jeden vernünftigen Zweifel hinaus" erwiesen und eine weitere Diskussion für überflüssig.

Hier zeigt sich der schnelle Wandel der Zeiten vielleicht am deutlichsten. Hielt es in den sechziger Jahren noch ein internationales Publikum für möglich, daß der totale Staat das Verschwinden von Millionen selbst vor ranghohen Mitarbeitern tarnen konnte - wie er das auch energisch versuchte -, so gilt dies unter dem steten Einfluß der seither gewachsenen Kollektivschuldthese jetzt als unglaubwürdig, ohne daß sich die Beweislage wesentlich geändert hat. Die Akte Speer bleibt auch deshalb weiter offen.

Foto: Albert Speer mit Gattin nach der Haftentlassung, Berlin-Spandau 1966: "Geläuterter Edel-Nazi"

Heinrich Breloer, Rainer Zimmer: Die Akte Speer - Spuren eines Kriegsverbrechers. Propyläen Verlag, Berlin 2006, gebunden, 512 Seiten, 24,90 Euro


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