© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/06 19. Mai 2006

Mehr als nur ein Ozean dazwischen
Lateinamerika-Gipfel: Das Wiener EU-Treffen brachte außer schönen Reden keine konkreten Ergebnisse / China als neuer Konkurrent um Rohstoffe und Märkte
Michael Howanietz

Sechzig Staats- und Regierungschefs waren zu einem dreitägigen Gipfeltreffen zwischen den Staaten der EU, Lateinamerikas und der Karibik (EU-LAK) angereist. Die medial zum "zweiten Wiener Kongreß" überzeichnete Veranstaltung stand unter dem von Österreichs Außenministerin Ursula Plassnik verkündeten Motto: "Europa und Lateinamerika sind Partner". "Geographisch haben wir einen Ozean zwischen uns", so die ÖVP-Politikerin, "aber wir sind Teil der selben Wertefamilie". Es liege deshalb nahe, verbindende Themen zu erörtern, von der Bekämpfung der Armut über Menschenrechte, Wirtschaftsbeziehungen und multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der Uno.

Deren Generalsekretär, Kofi Annan, mahnte an, daß der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit oberste Priorität haben müsse. Er unterstrich damit die Forderung der im Vorfeld des Gipfels abgehaltenen Konferenz katholischer Bischöfe aus Europa und Lateinamerika. Diese hatte in ihrer "Botschaft an den Gipfel" auf "die Asymmetrie der Gesellschaften" hingewiesen und vor allem die Einhaltung sozialer Mindeststandards durch in Lateinamerika tätige EU-Investoren verlangt.

Die von Adrianus van Luyn, dem Vorsitzenden der EU-Bischofskonferenz, angesprochene "Globalisierung der Solidarität", fand sich in der Folge mehrfach im Wortspenden-Repertoire der Gipfelteilnehmer. Wie aber globalisiert werden solle, was auch im vermeintlichen europäischen Exportland immer weniger vorhanden ist, blieb da wie dort unerwähnt. Denn gerade der vielbemühte Begriff der "Solidarität" ist innerhalb der EU zu einem hohlen Lippenbekenntnis verkommen. Der soziale Gemeinsinn ist ein innerhalb der Europäischen Union so oft gepredigter wie selten gelebter Instinkt.

Den über eine Million unterhalb der Armutsgrenze lebenden Kindern in Deutschland geht es sicherlich besser als vielen über der Armutsgrenze in Zentral- und Südamerika lebenden. Doch die sozialen Zustände in einigen Regionen des "Neuen Europas", aber auch in den von Zuwanderern bewohnten Stadtteilen westlicher Großstädte sind inzwischen von lateinamerikanischen Verhältnissen nicht weit entfernt.

Davon unbenommen tönte es aus dem österreichischen Außenministerium, Europa wolle seine Erfahrung im Bereich der Integration und des sozialen Ausgleichs anbieten. Freilich ohne zu "schulmeistern", wie Plassnik einsichtig betonte.

Dabei scheint es zunehmend den Protagonisten der "Neuen Linken" Lateinamerikas, allen voran Venezuelas Präsident Hugo Chávez vorbehalten, nationale Solidarität in politische Konzepte umzusetzen. Ob die von dem Linkspopulisten Chávez und seinem bolivianischen Amtskollegen Evo Morales forcierten Maßnahmen wirklich zu einer gerechteren Einkommensverteilung führen werden, bleibt - angesichts von Korruption und Vetternwirtschaft - abzuwarten. Ihre wilde Entschlossenheit, den teilweise katastrophalen Folgen der in den neunziger Jahren nach US-Vorbild durchgeführten "neoliberalen" Reformen wirksam entgegenzutreten, ist jedenfalls bis nach Europa spürbar.

Die Rückeroberung der "Macht über die Bodenschätze" soll den Trend zu verstärkter Konzentration des Reichtums - und damit noch breiterer Verarmung - umkehren. Die "Allmacht" der meist ausländischen Konzerne soll gebrochen, die Verfügbarkeit landeseigener Ressourcen durch Verstaatlichung zum "Wohl des Volkes" reguliert werden. Ideen, die Chávez für die zahlreich angereisten jungen linken Protestler zu einer Art neuen Che Guevara machen.

Plakatives Beispiel für den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist die von Chávez verfügte Umorientierung der venezolanischen Ölgesellschaft PDVSA. Der vormals unangetastet als Staat im Staat agierende Konzern wurde gezwungen, mit seinen sprudelnden Gewinnen auch staatliche Programme zu finanzieren. 1,4 Millionen Analphabeten sollen so inzwischen Lesen und Schreiben gelernt haben. In den Armenvierteln wurden Gesundheitsposten eingerichtet. Für die hierzu von Kuba gesandten 20.000 Ärzte und Lehrer erhält die darbende kommunistische Insel günstige Öllieferungen.

Und nach Venezuela und Bolivien geht nun auch Ecuador gegen ausländische Firmen vor: Die Regierung annullierte letzten Montag den Vertrag mit der US- Ölförderfirma Occidental Petroleum (OXY) und ordnete die Beschlagnahmung der Förderanlagen an.

Die EU bleibt auf Distanz zu Lateinamerika, China nicht

Das nächste geplante Mammutprojekt von Chávez ist eine über 10.000 Kilometer lange und zwanzig Milliarden Dollar teure Erdgasleitung, die venezolanisches Erdgas auch für Brasilien und Argentinien zugänglich machen soll. Die durch das Amazonasgebiet führende Gasleitung soll gleichzeitig das Rückgrat einer neuen - von US-Dominanz entledigten - lateinamerikanischen Allianz werden.

Doch dieses Projekt steht nicht nur den Absichten der USA, sondern auch denen der Europäer diametral entgegen. Schließlich war es die eigentliche Intention des Wiener Lateinamerika-Gipfels, durch die Schaffung neuer Freihandelszonen der offensiven Wirtschaftspolitik Chinas zu begegnen. Nachdem es durch günstige Kredite, technologische Entwicklungshilfe und billige Produkte (die zumeist Kopien europäischer Markenwaren sind) die ehemaligen Kolonialstaaten vom afrikanischen Markt verdrängt hat, steht das Reich der Mitte nunmehr vor den Toren Lateinamerikas. Denn der chinesische Wirtschaftsaufschwung benötigt nicht nur Öl und Gas, sondern auch andere Rohstoffe - auch hier hat Lateinamerika einiges zu bieten.

Auch in diesem Sinne ist die vom Wiener Gipfel ausgehen wollende Mission der EU im Keim gescheitert. Was freilich nicht in den schönfärbenden Beurteilungen der Europäer, um so mehr aber in den Resümees der Lateinamerikaner deutlich wird. "Es gibt den Eindruck, daß die EU auf Distanz zu Lateinamerika geht", erklärte etwa Paraguays Präsident Óscar Nicanor Duarte Frutos. Hugo Chávez bezeichnete gar den Auftritt einer spärlich bekleideten Greenpeace-Aktivistin vor der zum Gruppenphoto arrangierten Polit-Prominenz süffisant als "das Beste, was auf dem Gipfel los war."

Folgerichtig liest sich das 24seitige Schlußdokument der "Wiener Erklärung" wie der unbedarfte Versuch, mittels Worthülsen und Gemeinplätzen Ergebnisse vorzugaukeln, die es konkret nicht gibt. Weder die ernste Problematik der auch EU-Konzerne betreffenden Enteignungen in Bolivien noch die von Chávez propagierte neue Energieallianz mit Europa ("Petroeuroamérica") kommen darin vor.

Bleibenden Wert hat die aufwendige Veranstaltung deshalb einzig für die 1.500 zum Schutz der Staats- und Regierungschefs abkommandierten Polizisten. Ende Juni wird George W. Bush die Walzerstadt beehren. Da die anläßlich seiner Auslandsreisen dem Gastland abverlangten Sicherheitsmaßnahmen das Vorstellungsvermögen österreichischer Exekutivbeamter himmelhoch übersteigen, darf der gescheiterte EU-Lateinamerika-Gipfel wenigstens in dieser Hinsicht als gelungene Generalprobe gelten.


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