© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/06 12. Mai 2006

Direkt unter die Haut
10. Münchner Biennale
Karin Erichsen

Als "Laboratorium des neuen Musiktheaters" bezeichnet sich die Münchner Biennale selbst. Davon mag sich mancher eher abgeschreckt als angezogen fühlen. Das zeitgenössische Opernfestival bietet jedoch wirklich Neues und zwar vom Feinsten.

Am 5. Mai öffnete die Biennale mit der Uraufführung der modernen Oper "Wir" des 1965 in München geborenen Komponisten Christoph Staude. Der Stoff nach dem gleichnamigen Roman von Jewgenij Samjatin - 1920 im stalinistischen Rußland entstanden und vier Jahre später in England publiziert - ist eine packende Zukunftsprophezeiung à la George Orwell: In einem perfekt durchorganisierten Kontrollstaat herrscht der "Große Wohltäter" über eine entseelte Menschenmasse, die willenlos ihr vorherbestimmtes Dasein fristet. Wehe dem, der noch träumt oder sich Reste eines Ichs bewahrt hat - wie die aufsässige Außenseiterin I330, die mit ihrer Lebenslust den heimlich suchenden D503 zunehmend in ihren Bann schlägt!

Helen Malkowsky inszeniert das Werk von Anfang an düster und bedrohlich. Eine aufreizende Spannung erzeugt schon die Ouvertüre. Der Zuschauer sieht sich einer lichtdurchfluteten Szenerie auf einer Leinwand gegenüber, die an eine verlassene und zerstörte Stadt erinnert. Unvermittelt fällt der Vorhang in sich zusammen und enthüllt einen großen Turm aus geometrischen Quadern, aus dessen Spitze lange schwarze Leitungen zur Informationsübertragung in die Niederungen hinabreichen. Der Chor - Sinnbild einer homogenen Menschenmasse - tritt in gleichförmiger, abrupter Aktion auf. Homophon setzen die Stimmen ein. Der sich ständig wiederholende Rhythmus im Viervierteltakt vermittelt den Eindruck maschineller Bewegung.

Aus dieser kalten Homogenität ragen vier Charaktere prägnant hervor. Annette Elster verkörpert brillant die Rolle der exzentrischen I330, die bald mit wahnsinniger Präsenz und Vitalität den verzweifelten Aufruhr wagt, bald in wimmernder Verzweiflung resigniert. Ihr klarer, wandlungsfähiger Mezzosopran fährt direkt unter die Haut. Großartig an ihrer Seite spielt Robin Adams den schüchternen D503. Sein strahlender Bariton-Matin läßt die Sehnsucht und den Glanz im Herzen des äußerlich so schreckhaften Liebenden wundervoll erahnen.

Im drastischen Gegensatz dazu steht der voluminöse, dunkle Baß des Renatus Mészár, der raumgreifend und gebietend die staatliche Gewalt repräsentiert und die Urteile des anonymen "Wohltäters" über die Abtrünnigen vollstreckt. Besonders anrührend wirkt die in sich selbst gefangene O90. Sie ist dem D503 als Gefährtin zugeteilt, der sie jedoch verschmäht. Unplanmäßig spürt sie eine nie gekannte Eifersucht und Verlassenheit. Mit tiefem und sehnsuchtsvollem Mezzosopran enthüllt Hilke Andersen die Einsamkeit der Unglücklichen. Den Gegensatz zwischen gleichförmiger Masse und individueller Empfindsamkeit unterstrich das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Christian Hommel. Durch eine extrem konzentrierte und pointierte Interpretation des anspruchsvollen Werkes hielt es die in der Ouvertüre aufgebaute Spannung bis zum letzten Ton und darüber hinaus.

Die Münchner Biennale geht bis zum 20. Mai. Es stehen noch vier weitere Uraufführungen auf dem Programm. Infos unter: www.muenchenerbiennale.de.

Foto: Robin Adams und Annette Elster in der Oper "Wir"


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