© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/06 12. Mai 2006

CD: Klassik
Aus Nahost
Andreas Strittmatter

Zuerst möchte man die Nase rümpfen. Auf dem Programm stehen mit dem "Image symphonique" unter dem Titel "Les Dieux de la terre" und der symphonischen Suite "La nuit et la fou" zwei Werke, deren Inspiration sich Texten des Libanesen Khalil Gibran verdankt. Nun kommen Gibrans Bücher gutmenschlicher Verschnulzung in Mitteleuropa mehr entgegen, als es dem Dichter nutzt und frommt. Dennoch wird es niemand einem Landsmann des Autors verwehren wollen, Texte seiner Heimat musikalisch sprechen zu lassen - "Image" und "Suite" stammen aus der Feder von Bechara El-Khoury, einem 1957 im Libanon geborenen und heute in Frankreich lebenden Komponisten. Gemeinsam mit einigen anderen Werken macht sie der Tonträgerproduzent Naxos in wohlfeiler Edition zugänglich - wie so oft mit einer Formation aus der zweiten Reihe, wobei sich das akkurat und mit Leidenschaft unter Pierre Dervaux spielende Pariser Orchestre Colonne seiner Leistung jedoch keineswegs schämen muß.

Der Nahe Osten zeichnet sich - etwa im Gegensatz zu Japan - kaum durch umfängliche Rezeption abendländischer Musiktraditionen aus. Nicht nur deswegen mag El-Khoury als Exot im Kreise seiner europäischen Kollegen gelten. Nicht minder bemerkenswert verweigert er sich der vorherrschenden musikalischen Ästhetik, bleibt weitestgehend einem tonalen Tonsatz treu und prägt seinen Werken eine harmoniegesättigte Sinnlichkeit ein. So etwas erlauben die Wächter europäisch-kompositorischer Korrektheit meist nur Filmkomponisten (die dann aber bestenfalls als "Kunsthandwerker" gelten) und Hans Werner Henze (gegen dessen Schaffen die Darmstädter Neue-Musik-Riege auf Dauer nicht anstinken konnte).

El-Khoury, der sich kompositorisch auf jenen traditionsverhafteten Pfaden bewegt, die Europa spätestens 1950 verlassen hatte, steht daher zwangsläufig unter dem Generalverdacht, bestenfalls ein Epigone zu sein. Wer in diese Aufnahme mit Werken, die allesamt zwischen 1979 und 1982 entstanden, hineinhorcht, findet in der Tat Anklänge an Früheres, zumal der Komponist seine französische Prägung nicht verleugnen kann. Vor allem erinnern impressionistisch ausgebreitete Klangteppiche in den Streicherchören an Debussy, wenngleich El-Khoury deren Delikatesse durch eine instabil anmutende Harmonik gerne aufrauht oder im Rahmen der von ihm bevorzugten freien rhapsodischen Formen dem (zu schlichten) Wohlklang mit Scharmützeln anderer Instrumentengruppen ein Bein stellt. Auch andere Komponisten aus dem Übergang der Romantik in die Moderne hinterlassen auf der CD Fingerabdrücke: So etwa der britische Symphoniker Ralph Vaughan Williams, der bei den diatonischen Passagen in "La nuit et la fou" Pate gestanden haben könnte. Doch trotz allem zeichnet sich El-Khoury durch ein großes Maß eigener Kreativität aus, zu der nicht zuletzt die Kunst gehört, Tradition und eigene Ideen zu einer überzeugend frischen Synthese zusammenzuführen.

Zwei Werke reflektieren den Libanesischen Bürgerkrieg der 1970er- und 1980er-Jahre, wobei sich das "Requiem pour orchestre" wie auch "Le Liban en flammes", ein "Poème symphonique", hörbar mehr als Trauerarbeit denn als aufrührende Vergegenwärtigung von Schrecken und Leid verstehen. Problematisch ist El-Khourys "Le Regard du Christ", mit der Opusnummer 2 eindeutig ein Frühwerk. Hier drängt sich vergleichshalber zu sehr der musikalisch avancierte theologische Mystizismus eines Olivier Messiaen auf, als daß man dieses Orchesterpoem mit seinen pathetischen Klauseln und der spätromantischen Tonsprache samt gelegentlicher Harfen-Arpeggien auch nur annähernd ebenbürtig danebenstellen möchte.


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