© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/06 05. Mai 2006

Kräftezehrend
Nachruf: Paul Spiegel, der verstorbene Vorsitzende des Zentralrates der Juden, mußte vielen Ansprüchen gerecht werden
Doris Neujahr

Die Erwartungen, die an einen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland gestellt werden, übersteigen menschliche Kräfte und irdische Möglichkeiten. Der Vorsitzende muß innerhalb und zwischen den zerklüfteten Jüdischen Gemeinden für Ausgleich sorgen und gegenüber dem Staat deren Gesamtinteresse vertreten, er soll auf Abruf in der Lage sein, druckreife Einschätzungen über komplizierteste innen- und außenpolitische Fragen abzugeben. Er soll die Erinnerung an Ermordete und Verfolgte wachhalten und aufbereiten, Warner und Mahner sein, und gleichzeitig soll er Normalität vorleben, nämlich den gleichberechtigten Anspruch deutscher Juden auf gesellschaftliche und politische Teilhabe.

Damit nicht genug, ist er auch als theologische Instanz gefragt, die die religiösen Leerstellen eines säkularisierten Landes ausfüllt. Weil - nach einer unvergeßlich Formulierung des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer - Auschwitz die Basis des modernen deutschen Selbstverständnisses bilden muß, rückt der Zentralratsvorsitzende in eine Position, die einflußreicher ist als die des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des EKD-Vorsitzenden zusammen.

Wie soll man mit diesem Erwartungsdruck zurechtkommen? Entweder weist man ihn zurück und enttäuscht alle gutgesinnten Mitmenschen, oder man fügt sich und glaubt am Ende selber, daß die Elogen, die auf einen gesungen werden, der Wirklichkeit entsprechen. Dadurch gerät man in Gefahr, der Eitelkeit und Selbstüberschätzung zu verfallen.

Sogar der starke, charismatische Ignatz Bubis, der Vorgänger des jetzt verstorbenen Paul Spiegel, ist ihr nicht immer entgangen. Irgendwann war Bubis aber der Allzuständigkeit, die ihm zugemutet wurde, überdrüssig. Ihm schwante, daß die Ehrerbietung weniger seiner Person und dem Leid galt, das er um seine ermordeten Angehörigen trug, sondern dem Dienst, den er den Neurosen der Deutschen und ihrem Selbsthaß - unfreiwillig - erwies. Am Ende seines Lebens sah er sich als Gescheiterter. Daran ist lediglich richtig, daß die ihm übertragene Aufgabe nichts anderes als ein Scheitern zuließ.

Seinem Nachfolger Paul Spiegel blieb nicht mehr die Zeit, zu dieser Erkenntnis vorzudringen und sie für sein öffentliches Handeln fruchtbar zu machen. Der Respekt, der ihm gebührt, ergibt sich aus seiner frühen Biographie. Er wurde 1937 in Deutschland geboren, seine Eltern flohen mit ihm nach Belgien, versteckten ihn dort, bevor sie und seine ältere Schwester Rosel deportiert wurden. Rosel überlebte die Tortur nicht. Die Eltern kehrten nach dem Krieg mit Paul nach Deutschland zurück. Der Junge beherrschte zu diesem Zeitpunkt kein Deutsch und hatte Angst vor dem Land, aus dem eine tödliche Bedrohung über ihn gekommen war. Niemand kann wissen, wieviel von den kindlichen Ängsten ihn bis zum Schluß heimgesucht hat. Das alles ist zu bedenken, wenn man sein Wirken als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland kritisch betrachtet.

Paul Spiegel wurde im Januar 2000 in das Amt gewählt. Im selben Jahr wurde ein Brandschlag auf die Düsseldorfer Synagoge verübt, als dessen Verursacher sich zwei arabische Jugendliche herausstellten. Doch der "Aufstand der Anständigen", eine Massenpsychose, die bis zu Lynchgelüsten reichte, war da bereits im vollen Gange. Spiegel setzte sich an seine Spitze, als er auf einer Kundgebung vor 200.000 Teilnehmern die rhetorische Frage stellte, ob es "deutsche Leitkultur" sei, Menschen anzuzünden. Die Rede war scharf, polemisch, flach, doch die Spitzenpolitiker, die mit ihm auf der Tribüne standen, zogen ein Gesicht, als würde ihnen ein Wunderwerk an Tiefsinn verkündet, über das es sich noch lange nachzudenken lohne.

Spiegels fatale Äußerung blockierte eine freie, vor allem: angstfreie Diskussion über die Grundlagen und das Selbstverständnis des Landes um weitere, wertvolle Jahre. Die öffentliche Rolle, die er forthin spielte, war damit festgelegt. Man kann nur vermuten, wie groß Spiegels Enttäuschung gewesen ist, als sich herausstellte, daß sogar sein ehemaliger Stellvertreter Michel Friedman alias Paolo Pinkel den moralischen Ansprüchen, die er an seine Mitmenschen stellte, nicht im entferntesten genügte. Öffentlich thematisiert hat er sie nicht.

Über Paul Spiegels Andenken wird sich wohl bald der Schatten seines großen Vorgängers legen. Der Erfolg seines Nachfolgers wird davon abhängen, ob er die bisherige Funktionszuschreibung durchbricht und seine Aufgaben auf ein sachliches, rationales, irdisches Maß reduziert.

Foto: Paul Spiegel: Erwartungsdruck


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