© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

"Angst vor einem zweiten Sebnitz"
Der Publizist und Medienwissenschaftler Arne Hoffmann über die bizarre Medienreaktion im "Fall Potsdam"
Moritz Schwarz

Herr Hoffmann, inzwischen wird immer fragwürdiger, ob es sich bei dem Fall des am Ostersonntag in Potsdam lebensgefährlich verletzten Ermyas M. wirklich um einen "rassistischen Mordversuch" gehandelt hat. In Ihrer 2005 vorgelegten Studie "Warum Hohmann geht und Friedman bleibt. Antisemitismusdebatten in Deutschland" haben Sie die Mechanismen von Vorverurteilungen in deutschen Medien analysiert. Wenn Sie sich jetzt die Medienreaktionen auf den Fall Potsdam betrachten ...

Hoffmann: ... dann sehe ich meine Thesen einmal mehr bestätigt. Wobei ich inzwischen noch weiter gehen würde: Mir kommt es allmählich vor, als ob die Deutschen in zwei verschiedenen medialen Welten leben. Für diejenigen, die lediglich die Massenmedien konsumieren, ist der Potsdamer Fall immer noch ein "rassistischer Überfall", während sich für diejenigen, die auch die Tageszeitung lesen, längst auch ein anderes mögliches Bild von dem Geschehen abzeichnet. Daß sich der Konflikt nämlich durch wechselseitige Aggressionen beider Seiten zur Gewalttat hochgeschaukelt haben könnte.

Aber auch das - muß man betonen - ist derzeit noch eine Spekulation.

Hoffmann: Eben, beide Versionen sind derzeit rein spekulativ. Und Sie haben recht, das kann man derzeit gar nicht genug betonen! Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen. Dennoch aber werden in den Leitmedien bereits fertige Urteile als unumstößliche Wahrheiten unters Volk gebracht. Damit sabotieren sie die Unschuldsvermutung, die aus gutem Grund eines der Fundamente unseres Rechtsstaats ist.

"Rassistischer Überfall", "fremdenfeindlicher Mordversuch", "Nazischläger", titelten die Zeitungen bevor auch nur ein Aspekt der Tat ermittelt war. Wie ist diese "entfesselte Gewißheit" angesichts der Ahnungslosigkeit in der Sache zu erklären?

Hoffmann: Obwohl auch hier viele politische Gruppen ihr Süppchen kochen wollen, muß man sich das Ganze nicht wie eine gesteuerte Kampagne vorstellen. Offenbar war diese wie gleichgeschaltet wirkende Berichterstattung zunächst schlicht der Pressemeldung einer Nachrichtenagentur geschuldet, Tenor: "Rassistischer Mordversuch in Potsdam". Das wird dann im immer hektischeren Nachrichtengeschäft von Leitmedien wie etwa der Tagesschau leichtfertig übernommen, weil es scheinbar in das Raster der bestehenden Wirklichkeitswahrnehmung paßt, und andere Journalisten richten sich danach aus.

Aber woran liegt es, daß manche Medien sich immer noch weigern, ihren Zuschauern die alternative Version vorzustellen?

Hoffmann: Einige Medien tun das ja durchaus, wobei manchen von ihnen die Darstellung der Ereignisse sehr schizophren gerät. Etwa wenn die taz oder Spiegel online trotz der veränderten Ermittlungslage unverdrossen weiter von einem "Überfall" sprechen. Dieses Insistieren zeigt, daß wir uns von einmal gefaßten Auffassungen nur schwer wieder lösen können. Wenn ich mich einmal mit einer Anschuldigung weit aus dem Fenster gelehnt habe, sich die Sachlage aber bei genauerem Hinsehen anders darstellt, habe ich natürlich große Schwierigkeiten damit, vom einen Tag auf den anderen zurückzurudern und mein vorschnelles Urteil zu dementieren.

Reicht das allein als Erklärung? Diverse Medien verteidigen die These von der "fremdenfeindlichen Gewalttat" geradzu mit Zähnen und Klauen.

Hoffmann: Ich vermute, viele Journalisten sehen sich immer weniger in der Rolle von neutralen Berichterstattern, sondern als Erfüller eines volkspädagogischen Auftrags: vor dem Rechtsextremismus zu warnen und auf die laut Kriminalstatistik hohe Rate rechtsradikaler Gewalt hinzuweisen, die in den neuen Bundesländern grassiert. In dieses Schema schien die Tat von Potsdam gut zu passen, und es bot sich an, die bedenkliche Situation anhand dieser Tat zu illustrieren. Problematisch wird dies, weil sich ein Einzelfall nur begrenzt eignet, als politisches Exempel zu dienen. Wie man sieht, kann die intendierte Aufklärung schnell nach hinten losgehen, wenn sich die als gesichert ausgegebenen Vorannahmen schließlich als falsch erweist. Und das führt dann möglicherweise zur Panik.

Panik?

Hoffmann: Extreme Angst vor einem zweiten Fall Sebnitz. Damals wurde der Tod eines Jungen fälschlich Rechtsextremen angelastet, und die ganze Stadt stand unter Generalverdacht. Als sich schließlich aufklärte, daß es sich Wirklichkeit ganz anders verhielt, war nicht nur der Ruf von Sebnitz beschädigt. Es schien auch der "Kampf gegen Rechts" gefährdet, weil sich die schweren Vorwürfe als massenmediale Vorverurteilung herausstellten. Inzwischen ist "sebnitzen" ja in den neuen Bundesländern zu einer feststehenden Bezeichnung dafür geworden, daß voreilig und unbewiesen von angeblichen rechtsradikalen Verbrechen gesprochen wird.

Erstaunlich, aber aus Sebnitz hat man offenbar nicht das geringste gelernt.

Hoffmann: So ist es. Da verschiedene Medienleute erneut so dämlich waren, die Gefahr durch Rechtsradikale an diesem einen Vorfall aufzuhängen, könnte, falls sich auch diese Vorwürfe als unhaltbar erweisen, das Ganze so wirken, als sei Rechtsradikalismus an sich eine einzige Halluzination. Das darf doch nicht wahr sein! Also werfen sich einige Politiker, Lobbyisten und Journalisten noch mal richtig ins Zeug und sprechen von "Beschwichtigung", "Verniedlichung" und "Bagatellisierung", die mal wieder "unerträglich" und "empörend" sei. Der Bundesausländerbeirat äußert gar "blankes Entsetzen" - offenbar darüber, daß wir nicht gleich zur Lynchjustiz übergehen.

Entsprechende Vorwürfe haben unter anderem Jörg Schönbohm und Wolfgang Schäuble zu hören bekommen, für ihren Einwand, erst einmal die Ermittlungsergebnisse abzuwarten. Offiziell gilt solche eine Bedachtsamkeit als rechtsstaatliche Tugend. Plötzlich rückt sie das in die Nähe von angeblichen "Nazi-Tätern".

Hoffmann: Offenbar ist die Vorstellung von konservativen Politikern, die rechtsradikale Verbrechen verharmlosen, in unseren Köpfen bereits eingebrannt. Wir wissen dank sozialpsychologischer Untersuchungen, daß, wenn feste Schemata erst mal in einer Gruppe etabliert sind, jedes Abweichen als falsch, irreführend, als Unter- oder Übertreibung gewertet wird. Andersdenkenden wird dann vorgeworfen, daß sie die Wahrheit nur nicht erkennen können oder wollen.

Solche Muster scheinen mittlerweile bis in die Redaktion der Tagesschau hineinzuwirken. Ausgerechnet das "Flaggschiff" unter den deutschen Nachrichtensendungen läßt seine Zuschauer über alternative Versionen des Potsdamer Falles weit länger im unklaren als etwa die Tagespresse.

Hoffmann: Das irritiert mich auch sehr. Nach wie vor wird in dieser Sendung wie selbstverständlich von "Überfall" und "Mordversuch" gesprochen wird, als wären das feststehende Tatsachen. Die Tagesschau dürfte das Leitmedium sein, das die Realitätswahrnehmung der Deutschen am stärksten prägt, und sie hat eigentlich den Ruf der neutralen Berichterstattung inne. Allerdings war es die Tagesschau, die auch in der Affäre um Martin Hohmann die Marschrichtung vorgab, indem sie behauptete, er habe die Juden als Tätervolk bezeichnet. Bekanntlich konnte Hohmann im Februar 2005 gerichtlich eine Unterlassungsverpflichtung gegen diese Behauptung durchsetzen. Insofern entstehen bei mir an der Neutralität und Professionalität der Tagesschau allmählich Zweifel.

Im Gegensatz zur Tagesschau hat sogar "Bild"-Zeitung ihre Leser mitlerweile auf die veränderte Indizienlage aufmerksam gemacht.

Hoffmann: Ach, die Bild! Der geht vermutlich besonders die Muffe, weil sie schon im Fall Sebnitz eine sehr verantwortungslose Rolle gespielt und eine wahre Medienkampagne losgetreten hatte, die zu spektakulären Festnahmen führte - welche sich dann als völlig ungerechtfertigt herausstellten. Daß sie auch in anderen Zusammenhängen immer häufiger wegen Falschdarstellungen am Pranger steht, läßt sie jetzt wohl etwas verantwortungsbewußter schreiben. Aber auch die Bild-Berichterstattung hat zur öffentlichen Demütigung von Menschen beigetragen, die bis heute nichts weiter als Verdächtige sind. So hieß es über die Verhafteten von Potsdam in einer Bild-Schlagzeile: "Im Verhör riefen sie nach ihren Mamas!" - weil die beiden ihre Mütter als Alibizeugen benannten. Und auch die Vorverurteilung wurde von Bild durch alberne Sätze wie "Sie haben rasierte Schädel - wie Neonazis!" unterstützt.

Lassen sich noch andere Erkenntnisse aus Ihrer Studie auf den Fall Potsdam übertragen?

Hoffmann: Es gibt Ähnlichkeiten, und es gibt auch Unterschiede. Die Ähnlichkeiten liegen etwa in dem schon skizzierten Meinungsdruck, der sich ganz massiv aufbaut und der mich in der Studie den Vergleich zum McCarthyismus hat ziehen lassen: Schon an der Schuld von Menschen zu zweifeln, die einmal als "Täter" ausgemacht worden sind, wird skandalisiert. Jede Warnung vor falschen oder vorschnellen Urteilen gilt dann als Leugnen einer offenbar bereits festehenden Wahrheit.

Und die Unterschiede?

Hoffmann: Sie bestehen vor allem darin, daß im Fall Sebnitz und vielleicht auch in Fall Potsdam die von Dauerempörung geprägte Berichterstattung an einem bestimmten Punkt kippt. Das ist auch nachvollziehbar: Wenn das rechtsmedizinische Gutachten tatsächlich besagt, wie zum Beispiel die Märkische Allgemeine Zeitung die Sprecherin der Bundesanwaltschaft zititert, daß das mutmaßliche Opfer von einem einzigen Faustschlag getroffen worden ist, kann man nicht mehr an der Behauptung festhalten, die angeblichen Täter hätten hemmungslos auf den am Boden Liegenden eingentreten. Ähnliches gilt für Zeugenaussagen, die den deutschen Äthiopier in der Tatnacht als streitlustig belasten. Wenn sich all das bestätigt, sind das neue Fakten, die man auf Dauer nicht ignorieren kann. Um auf die Unterschiede zum Fall Hohmann zurückzukommen: In diesem ist es problemlos möglich, sich an einer Interpretation von Hohmanns Rede als "antisemitisch" festzubeißen. Diese Deutung schreiben dann irgendwelche Spätpubertierenden als Faktum in die Wikipedia und ein Professor wie Edgar Wolfrum in seine Darstellung der deutschen Geschichte, und damit ist der Schwachsinn zum "Faktum" geronnen, unabhängig, ob das einer näheren Analyse standhält oder nicht.

Sie weisen schon auf die Rolle des neuen Mediums Internet hin.

Hoffmann: Das spielt mittlerweile eine große Rolle, und zwar als Gegenöffentlichkeit. Hier ist es am ehesten möglich, an Meinungen, an Analysen und Informationen zu gelangen, die der "einen großen Wahrheit", wie sie in unseren Medien geradezu verordnet wird, widersprechen. Wo die Leitmedien noch im Gleichschritt marschieren, wird im Netz längst kontrovers und differenziert diskutiert. Ansonsten findet man diese Form von Gegenöffentlichkeit lediglich in der privaten Kommunikation - was die etablierten Medien natürlich abtun als "Stammtisch", ein Ausdruck, der bereits eine Abwertung als mindestens uninformiert, wenn nicht reaktionär usw. impliziert.

Welche Folgen haben diese Mechanismen medialer Vorverurteilungen für unsere Gesellschaft?

Hoffmann: Ich fürchte, sie führen zu einer Erosion des Rechtsstaats. Nichts illustriert das besser als die Bilder der Tatverdächtigen, wie sie mit Handschellen, Ohrenklappen und Augenbinden abgeführt wurden, als seien es Guantánamo-Terroristen: hochgefährliche Schwerstkriminelle. Und dann ab mit dem Hubschrauber zum Haftrichter in Karlsruhe! Das ist natürlich vor allem eine Inszenierung für die Medien: Der Staat zeigt Stärke. Das Problem hierbei ist, daß Staat und Medien in trauter Einigkeit Menschen vorführen und demütigen, die im juristischen Sinne immer noch unschuldig sind. Deren Menschenwürde wird der Inszenierung geopfert. Hier wären Worte wie "ungeheuerlich" einmal angebracht gewesen.

 

Arne Hoffmann Der Medienwissenschaftler veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze. Er gilt seit seiner 2005 vorgelegten Studie "Warum Hohmann geht und Friedman bleibt. Antisemitismusdebatten in Deutschland von Möllemann bis Walser" (Edition Antaios) als einer der profiliertesten nonkonformen Medienanalytiker. 2002 veröffentlichte er außerdem bei Schwarzkopf & Schwarzkopf das "Lexikon der Tabubrüche". Geboren wurde Hoffmann 1969 in Wiesbaden.


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