© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

PRO&CONTRA
Stasi-Überprüfung beenden?
Peter-Michael Diestel / Siegmar Faust

Die bisherige Praxis der Überprüfung kann als im wesentlichen außerordentlich einseitig und unhistorisch, und somit als gescheitert, betrachtet werden. Einseitig, weil die gesamte Bearbeitung der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik am Problem der Staatssicherheit festgemacht wird. Damit geht einher, daß die eigentlichen Machtstrukturen in einer kommunistischen Diktatur vernachlässigt wurden und auf die Frage reduziert werden, wer war ein IM oder wer war kein IM.

Der entscheidende Punkt, warum die bisherige Praxis der Überprüfung abzulehnen ist, liegt darin begründet, daß der in den Jahren 1989/1990 aufgelöste Geheimdienst etwas Selbstverständliches in der Phase seiner Auflösung getan hat, was jeder andere Geheimdienst der Welt auch getan hätte. Er hat nämlich im Falle des Untergangs belastende Unterlagen zu vernichten und somit die Seinen zu schützen. Was ist denn letztendlich der Gauck-Behörde und der späteren Birthler-Behörde zur Überprüfung der "nachfolgenden Gerechtigkeit" in die Hand gegeben worden? Es sind nur die Dinge, die der in Auflösung befindliche Geheimdienst als unwichtig betrachtet hat - Unterlagen, die man aus damaliger Sicht durchaus einer nachträglichen Bewertung zuführen wollte. Die wichtigsten Dinge sind in den Reißwolf, in den Ofen oder in die Aktentaschen der ehemaligen Geheimdienstler und somit möglicherweise nun zur dezidierten Anwendung und Verfügung der Journalisten und Redaktionen gelangt. Letztendlich kommt auch unser Wertegefüge durcheinander, wenn man Menschen für ein bestimmtes Verhalten, das meistens keinerlei strafrechtliche Relevanz hat, dreißig Jahre oder noch länger verfolgen, an den öffentlichen Pranger stellen und sie somit vollständig in ihrer bürgerlichen Existenz vernichten kann.

Ich bin mir sicher, daß sich bei künftiger Betrachtung dieser Rechtspraxis bei unvoreingenommenen und toleranten Menschen der Magen umdrehen muß.

 

Dr. Peter-Michael Diestel ist Rechtsanwalt in Potsdam, Leipzig und Zislow. Er war Innenminister der letzten DDR-Regierung 1990.

 

 

Aus der DDR-Opfer- und Widerstandsperspektive läßt sich sarkastisch fragen: Gab es überhaupt je eine Stasi-Überprüfung, die den Namen verdiente? Jeder weiß, es gab aufgeregte Kommissionen, Anfragen, Akteneinsichten, sich über­schlagenden Rummel, wenn ein prominenter Künstler, Bischof, Sportler oder gar der Ehemann einer Politikerin als perverser Spitzel enttarnt werden konnte. 180 Kilometer Stasi-Hinterlassenschaft allein an Stasi-Akten­ord­nern, dazu Filme, Ton­bänder, Utensilien, Tausende Säcke mit zerrissenen Ak­ten. Es gibt Museen, Aus­stellungen, Bücher, Filme, Aufklärung über alle Ma­ßen. Es reicht, könnte man meinen, denn irgendwann verjährt fast alles einmal. Die Argumente vieler Ju­risten sind sattsam bekannt. Und die gewählten Gesetz­geber im Bundestag? Immer wenn sie in der Opposition oder wie Dr. Kohl fern jeder Verantwortung sind, dann geben sie Sätze von sich, die von DDR-Wider­ständlern stammen könnten. Doch als Machthaber stehen sie zu­meist auf der anderen Seite. Dieses Land ist ein Irrenhaus. Die Regierenden folgen der Deutungshoheit linker Ideo­logen und stellen die Privilegien derer sicher, die nicht nur die Wirtschaft rui­nierten, sondern dank einer uto­pisch-totalitären "Philosophie" auch die in Gei­selhaft gehaltenen Bewohner do­mestizierten und religiös entwurzelten. Für sie haben sie billige Almo­sen und ein paar Feiertagsre­den übrig. Daß die gut ver­sorgten Betreiber der SED-Gewalt­herrschaft frech ihr Haupt erheben, ist die Folge einer politischen Wei­chenstel­lung seit 1968. Das ganze Land ist infiziert von dieser Ideologie, so daß die Frage, ob die Überprüfung im öffentlichen Dienst auslaufen darf oder nicht, angesichts der katastrophalen Verhältnisse ins­gesamt marginal scheint. Sie wird vermutlich folgenlos bleiben, solange die realsozia­listi­schen Verbrechen den na­tio­nalsozialistischen nachgeordnet und die Opfer des Kom­munismus noch immer wie Störenfriede behandelt werden. Nötig ist sie dennoch.

 

Siegmar Faust, Schriftsteller, war von 1996 bis 1999 Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen im Freistaat Sachsen.


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