© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Zuviel schwarze Galle im Blut
Melancholie: Die Neue Nationalgalerie in Berlin bietet große Kunst unter einem ungewöhnlichen Blickwinkel
Ekkehard Schultz

Was ist eigentlich Melancholie? Der Ursprung des Begriffes liegt in der antiken Medizin. Der berühmte griechische Arzt Hippokrates stellte um 400 v. Chr. fest, daß manche Menschen unglücklicher als andere erscheinen, obwohl die äußeren Lebensumstände gut miteinander vergleichbar sind. Ferner fand er heraus, daß die Betroffenen in ihren Gedanken so sehr um sich kreisen, daß sie mehr und mehr das Interesse an der äußeren Wirklichkeit verlieren und immer tiefer in sich selbst versinken. Als Ursache glaubte Hippokrates einen Überschuß schwarzer Galle im Blut zu erkennen.

Neben der medizinischen Variante, für die sich mittlerweile der Begriff Depression etabliert hat, ist Melancholie ein fester Bestandteil des menschlichen Lebens. Das mehr oder weniger intensive Nachdenken über sich selbst bezeichnete der Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin, Peter-Klaus Schuster, als eines der "edelsten, nobelsten Gefühle". In der Nationalgalerie ist noch bis zum 7. Mai die große Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" zu sehen.

Die Präsentation will einen möglichst breiten Überblick über die Melancholie in der Kunst bieten, kann diesen Anspruch aber nur teilweise erfüllen. So stößt der Besucher im ersten Raum zunächst auf eine große graue Fläche, die "Melancholia"(2003) von Johannes Geccelli. Er sieht ferner unter anderem Jörg Immendorffs "Letztes Selbstporträt I - Das Bild ruft" (1998), Andy Warhols "Selbstporträt" und "Joseph Beuys" (1980) sowie Gerhard Merz' "Al Itali" (1984). Dazu sind unterhalb eine Reihe von Totenköpfen großflächige Tafeln mit Architekturansichten aus der Zeit des italienischen Faschismus angebracht. Welcher Zusammenhang da bestehen soll, bleibt schleierhaft.

Ideologien sind nicht vor Melancholie gefeit

Auch der folgende Raum - "Die Melancholie der Moderne - Die Einsamkeit des Künstlers" - insbesondere mit Werken aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (Otto Dix, Max Beckmann, Paul Klee sowie von George Grosz) wirkt wenig strukturiert. Immerhin, der Hinweis auf die zur "Wahrheit" gewordenen "Alpträume", die Suche nach der Antwort auf die Kriege der Neuzeit, auf den Zusammenbruch sozialer Utopien und Wirtschaftsweisen und den damit verbundenen "Rückzug auf die eigene Identität" verweist schon etwas klarer auf die Thematik.

Weiter geht es in einen Raum, der mit "Die linke Melancholie - Melancholie-Verbot im Sozialismus" übertitelt ist. Der Nachweis, ob tatsächlich ein solches "Verbot" in der Kunst kommunistischer Länder existierte, wird allerdings nicht erbracht, sondern vielmehr durch die ausgestellten Werke sogar konterkariert. Statt dessen wird die Theorie, daß Ideologien nicht vor Melancholie gefeit sind und melancholische Stimmungen auch im sozialistischen Realismus thematisiert wurden, durch Bilder wie Werner Tübkes "Requiem" (1965) und vor allem Wolfgang Mattheuers "Die Ausgezeichnete" (1973/74) unterstrichen. Die Darstellung einer älteren Veteranin der Arbeit, im Zustand des starken In-Sich-Gekehrt-Seins gilt als eines der meistdiskutierten Bilder der DDR.

Fragwürdig indes, warum sich direkt gegenüber Boris Kustidievs "Der Bolschewik" (1920) befindet. Das Bild aus der Moskauer Tretjakow-Galerie bietet zu dem Mattheuer-Gemälde einen scharfen Gegensatz, der in der Ausstellung nicht aufgelöst wird. Der vorhandene Verweis auf die depressive Stimmung großer Teile der russischen Gesellschaft am Ende der Zarenzeit kann eigentlich nicht als Begründung herangezogen werden, weil diese Depression in Kustidievs Bild gar keine Rolle spielt; dem bolschewistischen Fahnenträger läßt sich beim besten Willen keine Spur von Nachdenklichkeit nachweisen.

Der Verdacht liegt nahe, daß hier doch relativ wahllos auf gerade zur Verfügung stehende Bilder zugegriffen wurde. Dies ist gerade deshalb äußerst schade, weil die Präsentation, je weiter sie zeitlich zurückgeht, nicht nur deutlich an Qualität zunimmt und verständlicher wird, sondern insgesamt ein ausgezeichnetes Panorama großer Kunst aller Epochen bietet - unter einem bislang eher wenig beachteten Blickwinkel. So bürgen für die besondere Qualität unter anderem mehrere große Werke von Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Arnold Böcklin, Franz von Stuck, Caspar David Friedrich, Edvard Munch und Karl Friedrich Schinkel, dessen "Gotischer Dom am Wasser" (1813) ein herausragenden Symbol von melancholischer Sehnsucht nach Vergangenem und Wunschbild für eigene Gegenwart nach der napoleonischen Fremdherrschaft ist.

Daneben stehen in Deutschland weniger bekannte Werke wie "Melancholie" (1894) des polnischen Künstler Jacek Malczewskis. Das Bild zeigt einen Maler, welcher unbeeindruckt arbeitet, während sich im Atelier Aufstände ereignen - ein vielsagender Kommentar zum Schicksal Polens während der Entstehungszeit.

Der schmale Grat zwischen Melancholie als menschlicher Grundkomponente und ihren krankhaften Auswüchsen wird im sogenannten Roten Raum verdeutlicht: Hier finden sich unter anderem Zeichnungen von Antonin Artaud, einem Schauspieler und Dramatiker, der jahrelang in psychiatrischen Kliniken gegen Schizophrenie behandelt wurde. Die Bilder symbolisieren neben der inneren Zerrissenheit vor allem die drohende Gefahr der weiteren Selbstzerstörung. Der bekannte aus der DDR stammende Maler und Galerist Gerhard Altenbourg zeichnete nach dem Zweiten Weltkrieg sogenannte "Nervenfaserköpfe", um traumatische Fronterlebnisse zu verarbeiten.

Ergänzt werden diese Werke durch eine Präsentation zahlreicher Bücher zum Thema Genie und Wahnsinn, z.B. des bekannten italienischen Psychiater und Kriminologen Cesare Lombroso, dessen Titel "Genie und Irrsinn" (Leipzig, 1887) heute ebenso stark umstritten sind wie die Geräte, mit denen damals psychisch Kranke behandelt wurden.

Nicht nur mit Gemälden, Zeichnungen und Werken der Bildhauerei wartet die Ausstellung auf. Ein ganzer Raum ist dem Klang der Melancholie, also ihrem musikalischen Ausdruck gewidmet. Freilich sind dabei nur grobe Andeutungen möglich, da für eine ausführliche Dokumentation der Klanggeschichte schlicht der notwendige Platz fehlt.

Am Eingang bzw. Ausgang seines Rundgangs durch die Präsentation kann der Besucher in einer Black Box Kurzfilme zur Thematik wie Carlos Amorales "Manimal" (2005) mit angsteinflößender Landschaft, heulenden Wölfen und dramatischer elektronischer Musik oder Corinna Schnitts "Das schlafende Mädchen" (2001) ansehen, wo sich eine scheinbar glückliche Kleinstadt als vollkommen lebensleer entpuppt. Ärgerlich nur, daß jeder Film jeweils sechsmal hintereinander gezeigt wird, bevor der nächste beginnt. Ein echter Überblick über das Schaffen von Künstlern auf diesem Gebiet ist somit bei einmaligem Besuch unmöglich.

Insgesamt fällt eine Beurteilung der Ausstellung also zwiespältig aus. Einerseits interessant und lehrreich, sind andererseits die zahlreichen methodischen Mängel doch unübersehbar; zu häufig erschließt sich der Zusammenhang zwischen Thematik und Werken entweder gar nicht oder nur unzureichend.

Foto: Caspar David Friedrich, "Mondaufgang am Meer" (1822): Manche erscheinen unglücklicher als andere Dürer, "Melencolia I" (1514)

Die Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" wird bis zum 7. Mai in der Neuen Nationalgalerie Berlin, Potsdamer Str. 50, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, Fr., Sa. bis 20 Uhr, gezeigt. Telefon: 030 / 2 66 36 69, Internet: www.melancholieinberlin.org.

Der reich bebilderte Katalog mit 512 Seiten kostet in der Ausstellung 45 Euro, im Buchhandel 49,80 Euro.


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