© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Eckstöße: Marginalien zur Fußball-WM (Folge VII)
Die Vernunft hat gesiegt
Arthur Hiller

Oliver Kahn hat nach der Entscheidung von Nationaltrainer Klinsmann für Jens Lehmann als Nummer eins (JF 16/06) nur eine kurze Denkpause benötigt, um sich zu dem Entschluß durchzuringen, während der Weltmeisterschaft auf der Ersatzbank Platz zu nehmen. Seither gilt er nicht bloß als Patriot, dem die stolze Mission des deutschen Volkes im Jahr 2006 wichtiger ist als sein kleines, verletztes Ego. Sogar die Sympathien der Öffentlichkeit scheinen ihm auf einmal zuzufliegen. Bislang wurde er bei aller Anerkennung für seine Ausnahmeleistungen auf der Torlinie doch eher als ein übermotivierter Primat belächelt. In nicht wenigen Stadien begrüßten ihn die Zuschauer mit Affengebrüll und Bananen. Nun, nach seinem Sturz schweigen Haß und Spott und der einstige Titan ist "plötzlich die Nummer 1 der Herzen" (Bild-Zeitung).

Allerdings würde man die Professionalität von Oliver Kahn verkennen, wollte man ihm unterstellen, daß vor allem das Herz gesprochen hätte und nicht auch die ökonomische Rationalität im Spiel gewesen wäre. Ein Rücktritt ließe alle PR- und Werbekampagnen im WM-Umfeld Makulatur werden, die auf ihn als zentrale Figur der Nationalmannschaft aufbauen. Jetzt kann sich zum Beispiel der Sportausrüster Adidas damit trösten, daß Anchorman Kahn zwar nicht mehr in der Anfangsaufstellung der DFB-Auswahl stehen wird, sein Bekanntheitsgrad aber unverändert hoch und sein Ansehen sogar noch gestiegen ist.

Zöge Kahn sich in den Schmollwinkel zurück, müßte das Konzept hingegen entscheidend modifiziert werden. Dies wäre jedoch kaum zu leisten, da die Klinsmann-Elf nur in begrenztem Umfang über Prominenz verfügt, die im Bewußtsein der Verbraucher über lange Jahre nachhaltig verankert ist, und zudem bis zum Anpfiff des Eröffnungsspieles nur noch wenig Zeit zur Verfügung steht, um etwa Dreharbeiten oder Fototermine in die Turniervorbereitung zu integrieren. Nicht auszuschließen ist daher, daß Oliver Kahn gar nicht die Freiheit hatte, von sich aus den Abschied aus der Nationalmannschaft zu vollziehen, ohne darüber vertragsbrüchig zu werden und markante finanzielle Einbußen zu erleiden.

Allerdings wäre dieser Entscheidung auch nur eine geringe emotionale Befriedigung abzugewinnen gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die DFB-Auswahl vorzeitig ausscheidet, ist zwar recht hoch. In Erkenntnis ihrer eigentlichen Schwächen würde aber niemand so schnell auf die Idee kommen, daß ausgerechnet das Fehlen Kahns dafür verantwortlich gewesen wäre. Sein Rücktritt hätte somit keinen Mythos begründet, sondern bloß seinen Marktwert demontiert. Auf der Ersatzbank wird er diesen in seiner neuen Rolle als Motivator hingegen zu behaupten wissen.


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