© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Alles auf einmal
Aachen: Opern-Labyrinth als Selbsterfahrung
Christian Grothaus

Der Zen-Buddhist und Aktionist des Zufalls John Cage begriff sein 1987 in Frankfurt am Main uraufgeführtes Opernwerk "Europeras" (sprich: your operas) als eine Art Frischzellenkur, die einer als zu Ende gedachten Kunstgattung zur programmatischen Fortsetzung verhelfen sollte. Eine Steigerung der Aufmerksamkeit für die Aktivität der Klänge war angestrebt und die Befreiung der Musik aus dem Diktat des Dirigenten sein Ziel.

Ludger Engels und Volker Straebel schneiderten nun den "Musicircus on Europeras" regietechnisch und kompositorisch dem Theater Aachen auf den Leib. Bis zum 20. Mai wird die Transformation der Thematik insgesamt achtmal zu sehen sein.

Acht Sänger und 42 Musiker wechseln zwischen zwölf verschiedenen Orten im gesamten Theater. Es werden Fragmente aus dem aktuellen Spielplan des Theater Aachen isoliert und parallelisiert. Die musikalischen Bruchstücke reichen dabei von Britten, Händel, Mozart und Offenbach bis zu Rossini und Verdi. Anstatt einer Oper bekommt der Zuschauer alle gleichzeitig geboten.

Auf der Bühne wirkt jeder der Akteure zwar authentisch, jedoch in seiner eigenen Welt gefangen, unvermittelt und ohne Bezug auf seine Umgebung. Für den Zuschauer ist alles gleichzeitig verfügbar, ohne Wertung und ungegliedert. Eine Vermittlung der Informationen geschieht nicht.

Die Bühnenarbeiter spielen eine wichtige Rolle. Sie laufen in geordneten geraden Linien und rechten Winkeln. Sie sind zwar dazwischen, daneben, dahinter und darüber, scheinen sich jedoch voll und ganz den in Seelenqualen aufgelösten Akteuren auf der Bühne zu entziehen. In dieser distanzhaften Nähe montieren und demontieren sie verschiedene Formen auf der Bühne. Zu einem Ende kommen sie dabei nicht.

In der privilegierten Draufsicht des Publikums erscheint die Leidenschaft der Sänger ebenso autistisch wie das stupide und emotionslose Funktionieren der Arbeiter. Das ändert sich, nachdem das Ensemble nach und nach von der Bühne geht und die Musiker allmählich nacheinander den Orchestergraben verlassen, um ihre Einzelplätze in Theaterbau einzunehmen.

Der Besucher bewegt sich nun in einem räumlichen Opernlabyrinth und kann Fühlung aufnehmen. Die Musik gerät in ein Wechselspiel, wird laufend konfrontiert mit verschiedenen Orten und nicht zuletzt mit den Zuschauern selbst. Ein Countdown von 2 Stunden 30 Minuten gliedert auf die Sekunde die Einsätze und gibt die Startsignale für zahlreiche Wanderungen aller Akteure.

Die typische Frontalsituation des herkömmlichen Theaters wird aufgebrochen. Das Publikum kann sich den Musikern und Sängern nähern und ganz nebenbei auch noch in Bereiche des Aachener Kulturtempels vordringen, die sonst versperrt sind. Das Erkunden verwinkelter Treppenhäuser, Blicke in Duschräume oder die Sicht in den Bühnenturm sind in Kombination mit Opernfragmenten allemal ungewöhnliche Erfahrungen.

Hochinteressant ist hierbei die Interaktion der Zuschauer untereinander. Wenn beispielsweise ein Solist eine tragische Arie singt, werden die Gefühle nicht nur des Sängers überdeutlich begreifbar, sondern auch die des umgebenden Publikums. Bewegung und Vereinzelung auf der einen Seite und auf der anderen Nähe, Intimität und Gemeinschaft. Die Musik verbindet in diesem Momenten für alle begreifbar die Menschen, und aus dem Theaterabend wird "Deine Opern". Christian Grothaus

 

Die nächsten Aufführungen im Theater Aachen, Hubertusstr. 2-8, finden statt am 27. und 30. April sowie am 20. Mai. Info und Karten: 02 41 / 47 48-1


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