© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Nach den Gesetzen der Sieger
Werner Masers Standardwerk über die Nürnberger Prozesse hat eine Neuauflage erfahren
Heinz Magenheimer

Der als Sachkenner bestens ausgewiesene Autor bietet ein breites, ausgewogenes Spektrum von Ereignissen, Handlungsabläufen und Hintergründen, die den Nürnber­ger Prozeß 1945/46 vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) ausma­chen. Werner Maser hat nun seinen Klassiker über Nürnberg aus dem Jahr 1977 wiederaufgelegt. Schon die Moskauer Drei-Mächte-Erklä­rung vom 30. Oktober 1943 verdeutlicht, daß die künfti­gen Siegerstaaten diejenigen deut­schen Offiziere, Soldaten und Mitglieder der NSDAP, die für Grausamkeiten und Massaker für verantwortlich befunden wurden, anklagen und bestrafen würden. Stalin sprach auf der Konferenz von Teheran sogar von 50.000 Offizieren, die erschossen werden sollten. Die unter­schiedlichen Ansich­ten über die Bestrafung der als "Kriegsverbrecher" bezeichneten Personen trat wäh­rend der Potsdamer Konferenz zutage. Erst viel später wurde bekannt, daß Winston Churchill seinen Feind Hitler, falls man ihn festgenom­men hätte, auf den elektrischen Stuhl bringen wollte; außerdem wollte er die meist­belasteten Beschuldigten kurzerhand erschießen lassen, da er einen Prozeß für wenig sinnvoll hielt.

Den 21 Hauptangeklagten, die sich für nicht schuldig bekannten, wurden folgende Verbrechen zur Last gelegt: gemeinsamer Plan, das heißt Verschwörung; Verbrechen gegen den Frieden, das heißt Entfesselung von Angriffskriegen; Kriegsverbrechen; Verbre­chen gegen die Menschlichkeit. Diese Anklagepunkte entstammten dem Londoner Statut vom 8. August 1945, das die rechtliche Grundlage für den Nürnberger Prozeß bildete. Doch handelte es sich hier um einen Akt, der jeder abendländischen Rechtsprechung widersprach, da er nämlich Tatbestände konstruierte, die den Beschuldigten rückwirkend zur Last gelegt wurden.

Damit verstießen die Siegermächte gegen ein Fundament der Rechtsprechung: "nulla poena sine lege", das heißt eine Tat mußte bereits zur Zeit ihrer Ausführung strafwürdig gewesen sein. Des weiteren verletzten sie einen anderen Grundsatz der Rechtslehre, wonach nämlich das Richteramt und die Anklage nicht in einer Hand liegen dürfe. Übrigens hatten einige Richter bzw. Ankläger das Londoner Statut unterzeichnet, so daß auch keine Trennung zwischen Gesetzgeber und richterlicher Gewalt gegeben war, was ebenfalls der bisherigen Rechtsnorm widersprach.

Die Anklageschrift wurde am 18. Oktober 1945 im Gebäude des Alliierten Kontrollrats in Berlin übergeben, just dort, wo vierzehn Monate vorher Roland Freisler die Todesurteile gegen die Männer des 20. Juli sprach. Die eigentliche Eröffnung der Prozesse gegen insgesamt 177 Angeklagte begann am 20. November im Nürnberger Justizpalast in der Fürther Straße 110 im Saal 600 mit dem Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. Nach neun Monaten wurde am 1. Oktober 1946 das Urteil verlesen: zwölfmal die Todesstrafe (Hermann Göring, Hans Frank, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Frick, Alfred Jodl, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Arthur Seyß-Inquart, Julius Streicher und Martin Bormann in Abwesenheit), dreimal lebenslänglich (Rudolf Heß, Walter Funk, Erich Raeder), vier Zeitstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren (Karl Dönitz, Baldur von Schirach, Konstantin von Neurath, Albert Speer) drei Freisprüche (Hans Fritzsche, Franz von Papen, Hjalmar Schacht). Im Anschluß an den internationalen Hauptkriegsverbrecherprozeß fanden die zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse statt. Mit dem letzten Urteil am 11. April 1949 waren die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zu Ende.

Wenn auch nach außen hin der Anschein eines korrekten Verfahrens gewahrt wurde, so kam es doch zur Mißachtung der Rechte, die den Angeklagten üblicher­weise zustanden: mangelnde Hygiene und medizinische Betreu­ung, Behinderung der Verteidigung, Verweigerung der Akteneinsicht, Beseitigung von entlastenden Bewei­sen, Einschüchterung von Zeugen, Diebstahl von Dokumenten. Ein Text wie das sogenannte "Hoßbach-Protokoll" würde heute kaum von einem Gericht als Beweisstück anerkannt werden. Außerdem hatten die West­alliierten ihre Militärstrafgesetz­bücher bereits 1944 geändert, wobei sie diejenigen Paragraphen aufhoben, die Straffreiheit für eine Tat gewährten, die auf höheren Befehl hin aus­geführt wurde. Die Verteidigung konnte sich also nicht auf vergleich­bare Tatbe­stände berufen. Vor der Einlieferung nach Nürnberg waren mehrere Gefangene schwer mißhandelt und gefoltert worden, vor allem Julius Streicher und Hans Frank. Robert Ley beging noch vor Beginn der Verhandlung Selbstmord. Oswald Pohl, dem die Verwaltung der Konzentrationslager unterstanden hatte, mußte Folterungen über sich ergehen lassen, bis er sich bereit erklärte, Ex-Minister Walter Funk zu belasten.

Bei manchen Fragekomplexen, wie etwa bei den Verbrechen bei Katyn oder dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, die von der Verteidigung vorge­bracht wurden, geriet das IMT in große Verlegenheit. Der Fall Katyn, den der sowjeti­sche Ankläger den Deutschen anlasten wollte, wurde einfach beiseite gelegt. Auch gestaltete es sich für die Anklage schwierig, den Beweis zu liefern, daß die Wehrmacht auf einen Angriffskrieg vorbereitet war. Die Hauptangeklagten zumindest besaßen gar nicht die Kompe­tenz zur Entfesselung eines solchen Krieges.

Göring hatte im Sommer 1939 Verhandlungen mit London durch Birger Dahlerus initiiert, um den Krieg zu verhindern, Heß stand außerhalb der Entscheidungsfindung, während zum Beispiel Großadmiral Raeder jedem Krieg, der die Seemacht Großbritannien zum Gegner machte, mit größten Vorbehalten gegenüberstand. Seyß-Inquart, Frick und von Neurath, die beispielsweise wegen Verbrechens gegen den Frieden ver­urteilt wurden, hatten mit den Kriegsplanungen nichts zu tun. Es gelang aber der Verteidigung nicht, den Nachweis zu erbringen, daß sich die Anklage oftmals auf tendenziöse Behauptungen stützte.

Nur wenige Angeklagten bekannten sich später entgegen ihren Eingangsplädoyers ("Nicht schuldig") zu ihrer Verstrickung in Verbrechen, wie etwa der reumütige und zerknirschte frühere "Generalgouverneur" Frank oder die einsichtigen Keitel und Speer. Letzterer gestand seine Mitverantwortung im nachhinein ein. Seine geschickte Verteidi­gung, die nicht frei von Selbstdarstellung war, konnte seinen Kontrahenten General André Raginsky mehrmals in die Schranken weisen und den Gerichtshof beeindrucken. Er besaß auch den Mut, Fragen des Anklägers nicht zu beantworten. Der amerikanische Hauptankläger Robert Jackson hegte offenbar Sympathien für Speer, die so weit gingen, daß er mit ihm Absprachen traf.

Justice Jackson erklärte am 21. November 1945, daß die Siegernationen das Völkerrecht nutzbar machen wollten, um dem größten Übel der Zeit, nämlich dem Angriffskrieg entgegenzuwirken. Er blieb jedoch die Antwort schuldig, ob ein derartiger Prozeß überhaupt imstande war, künftige Angriffskriege zu verhindern. In der Folge erhoben prominente Zeitgenossen ihre Stimme gegen die Rechtsprechung in Nürnberg, etwa der amerikanische Völkerrechtler Michael Francis Doyle und R. Crossman, der ehemalige Leiter der politischen Kriegführung in Großbritannien. Demnach stellten die "Kriegs-verbre­cherprozesse" eine Schande für alle dar, die sie betrieben hätten. Crossman nannte beispielsweise im Mai 1963 die Zerstörung Dresdens 1945 "eines jener Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Urheber man in Nürnberg vor Gericht gestellt hätte, wäre dieses Gericht nicht in ein reines Instrument alliierter Rache verdreht worden". Ähn­lich äußerte sich der Bischof von Münster, Clemens Graf Galen, der die Einseitigkeit der Anklage ohne Berücksichtigung der Kriegsverbrechen anderer Nationen anprangerte. Trotz aller Einwände und Bedenken setzte der Nürnberger Prozeß jedoch eine völkerrechtliche Wegmarke für die Nachkriegszeit.

Werner Maser: Nürnberg. Tribunal der Sieger. Edition Antaios, Schnellroda 2005, broschiert, 476 Seiten, Abbildungen, 26 Euro

Foto: Nürnberger Justizpalast mit großer Pressetribüne: Ein Tribunal wird zur völkerrechtlichen Wegmarke


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