© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Die Ruhe des Klassikers
Wird auch durch Tagungslärm nicht gestört: Eine Aufsatzsammlung über den eidgenössischen Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt
Hans Stickeler

Klassiker wohnen in "Palästen der Irdischen Ruhe". Die sehen in Europa anders aus als in Pekings Verbotener Stadt und heißen hierzulande "Gesamtausgabe". Jacob Burckhardt (1818-1897), Urschweizer Großmeister der Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung, verfügt inzwischen über deren drei, wobei der Abschluß der jüngsten, ebenso "historisch-kritischen" wie unbezahlbaren, 27 Bände umfassenden Monumentalausgabe des C. H. Beck Verlages noch ein Weilchen auf sich warten läßt.

Es ist also dafür gesorgt, daß Burckhardt seine Ruhe hat. Störungen sind allenfalls zu runden Gedenkjahren zu erwarten. 1997 war so eins, der hunderste Todestag am 8. August. An seiner heimatlichen Alma mater, der Universität Basel, und in Princeton, wo der Faible der akademischen Upper Class für das "Alteuropäische" besonders ausgeprägt ist, fanden aus diesem Anlaß Colloquien statt. Sieben Jahre danach, also gerade noch rechtzeitig zum 200. Geburtstag 2018, liegen die Referate endlich auch gedruckt vor. Die steile Internationalität des Unternehmens, die die Herausgeber dadurch kräftig betonen, daß die in Princeton gehaltenen Referate deutscher Burckhardt-Kenner wie Henning Ritter, Jörn Rüsen oder Peter Ganz hier nur in der englischen Fassung nachzulesen sind, steht in einem etwas traurigen Kontrast zum biederen Inhalt. Denn was sich "neue Aspekte der Burckhardt-Forschung" nennen dürfte, sucht man in diesem Tagungsband vergeblich. Auszunehmen davon sind vielleicht die Beiträge zur Burckhardt-Rezeption, von Lionel Gossman über "Burckhardt in der anglo-amerikanischen Geisteswelt", von Pierre Vaisse (Frankreich) und Hiroyuki Numata (Japan), wenn auch die Neuigkeiten, mit denen sie aufwarten, nur Erwartungen bestätigen. Denn daß der geschichtsphilosophische Pessimist Burckhardt in der angelsächsischen Welt nur kurzzeitig auf Resonanz stieß, etwa im "Klima der wankenden ideologischen und methodologischen Sicherheiten", des "Mißtrauens und der politischen Repression" in der McCarthy-Ära, kann ebensowenig verwundern wie Gossmans Befund, daß "Burckhardts Antidemokratismus" zwischen "ihm und den meisten seiner anglo-amerikanischen Leser eine Schranke aufgebaut" habe. Wenn folglich Burckhardt im Japan nach Hiroshima und Nagasaki wiederum als "heilsames Korrektiv zum amerikanischen Optimismus" auf Interesse stieß, wenn die fernöstlichen "Besiegten von 1945" ein stärkeres Krisenbewußtsein ausbildeten und empfänglich wurden für Burckhardts Leiden an der Gegenwart des modernen "Massenstaates", auch für seinen "Muth, conservativ zu sein", dann bestätigt Numata im Detail, was man sich denken konnte: Bei den Verlierern der Geschichte kommt der Basler Kulturphilosoph allemal besser an als bei den zähnebleckenden Siegern.

In Maßen die Ruhe des Klassikers störend und damit den betulichen Gesamteindruck der Aufsatzsammlung "aufmischend" nehmen sich die beiden schwungvollen Reden aus, die gerade die ältesten Referenten beisteuern: die des in Breslau 1926 geborenen, nach 1933 in die USA emigrierten Historikers Fritz Stern und die des Berliner Dramatikers und Essayisten Rolf Hochhuth, der gerade am 1. April 2006 seinen 75. Geburtstag feierte.

Stern berührt ein Thema, das allein innerhalb den letzten zwanzig Jahre noch geeignet war, wirklich "Streit" um Burckhardt zu entfachen, der sogar in den Spalten des Feuilletons ausgetragen wurde. Abgesehen von geschlechtlich Intimem vermag bekanntlich nur eine Thematik solche Skandalisierungseffekte auszulösen: das auf den "Antisemitismus" reduzierte Verhältnis oder Unverhältnis zu den Juden. Stern greift diese Debatte über Burckhardts "Antisemitismus" auf, spricht recht offen davon, daß dieser "Feind des Modernen" nahezu zwangsläufig auch ein "entschiedener Gegner der jüdischen Präsenz" in "Presse, Erwerb und Verkehr" der europäischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sei, aber versucht dann doch abzuwiegeln: Man müsse das mehr "zeitgebunden" sehen, "konventionell" und "ressentiment-beladen" - viel wichtiger seien schließlich die "zeitlosen Gedanken des großen Moralisten". Womit der Klassiker weiterhin im "Palast der Irdischen Ruhe" eingesargt wird.

Hochhuths Versuch, Burckhardt daraus zu befreien, für ihn Aktualität zu reklamieren, setzt bei dem Vorwurf an, daß der Kunsthistoriker und Geschichtsdenker kein "Philosoph" gewesen sei, was seiner "Größe" Abtrag tue. Mit Verve springt Hochhuth für seinen Helden in die Bresche und behauptet, daß der Mann, der in der Tat bekannte, zum abstrakten Denken keine Minute des Jahres aufgelegt gewesen zu sein, allen professionellen "Denkern" und "Metaphysikern" als wahrer "Lehrer der Menschheit" deswegen überlegen sei, weil er als Humanist den Einzelnen ins Zentrum der Geschichte gestellt habe, das Individuum, das in den megalomanen Geschichtsideologien des sich zu Burckhardts Lebzeiten ankündigenden "Zeitalters der Extreme" gar nicht mehr vorkomme.

Andreas Cesana, Lionel Gossman (Hrsg.): Begegnungen mit Jacob Burckhardt. Encounters with Jacob Burckhardt, Schwabe Verlag, Basel 2004, 380 Seiten, gebunden, 39 Euro

Foto: Theodor Bissegger, Jacob Burckhardt mit Zeichenmappe, Radierung 1888: Allen professionellen Denkern und Metaphysikern als wahrer "Lehrer der Menschheit" überlegen


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