© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Eckstöße: Marginalien zur Fußball-WM (Folge VI)
Klinsmanns Machtdemonstration
Arthur Hiller

Am Samstag, dem 16. Oktober 1993 gegen 17  Uhr entschwand Jens Lehmann ganz gegen seine ursprüngliche Tagesplanung mit der Straßenbahn dem Leverkusener Ulrich-Haberland-Stadion. Sein Schalker Team hatte zur Halbzeit gegen die Bayer-Werkself mit 0:3 hinten gelegen, und die mitgereisten Fans machten ihn für die Misere verantwortlich. Trainer Jörg Berger versuchte, durch die Einwechslung von Holger Gehrke zwischen den Torpfosten für Ruhe zu sorgen, damit sich das 1:6-Debakel der Vorsaison nicht wiederhole. Die Rechnung ging nicht ganz auf. Auch diese Partie endete mit 1:5 wenig rühmlich.

Die Nerven des damals 23jährigen Jens Lehmann lagen derweil blank, er fühlte sich am Tiefpunkt seiner Karriere und ergriff noch vor dem Abpfiff die Flucht aus der Arena seines Scheiterns. Erst vier Monate später stand er wieder im Schalker Tor, aus dem er sich in den folgenden vier Spielzeiten allerdings nicht mehr verdrängen ließ; 1997 holte er mit Schalke sogar den UEFA-Cup.

1998 gab Jens Lehmann sein Debüt in der Nationalmannschaft, als er beim Freundschaftsspiel im Oman nach der Pause den Platz von Andi Köpke einnahm. Hinter diesem und Oliver Kahn war er zunächst die Nummer drei unter den Torhütern der DFB-Auswahl. Als Köpke nach dem desaströsen Ausscheiden im WM-Viertelfinale gegen Kroatien 1998 seinen Rücktritt erklärte, rückte er um einen Rang auf. Geduldig harrte er in den folgenden acht Jahre auf der Ersatzbank aus, wurde älter und älter und mußte eigentlich, den Normalfall in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft zugrunde gelegt, davon ausgehen, gemeinsam mit Kahn in den Ruhestand zu gehen und so den Rangnächsten, den deutlich jüngeren Timo Hildebrand, an sich vorbeiziehen zu lassen.

Auch mit dieser Tradition einer beschaulichen und berechenbaren Nachfolgeregelung im Tor hat Jürgen Klinsmann jedoch gebrochen. Was dabei den Ausschlag für Lehmann gegeben hat, bleibt bislang im dunkeln. Günter Netzer orakelt, er passe vielleicht besser zu Klinsmanns offensiver Spielphilosophie. Dafür spricht aber eigentlich nur, daß er 1998 aus dem Spiel heraus schon einmal ein Bundesligator erzielt hat. Gleiches ist aus der Heerschar der Torhüter bisher nur Frank Rost gelungen, womit feststehen dürfte, daß dieser, sofern Kahn das Handtuch schmeißt, auch mit zur WM fährt.

Nicht überraschen würde es, wenn Klinsmanns Entscheidung im Kern bloß eine kühl kalkulierte Machtdemonstration gewesen wäre: Die auch sonst zu allerlei Sticheleien gegen ihn neigenden Bayern haben penetrant darauf gedrungen, daß er sich nicht erst im Mai festlegt. Diesen Gefallen hat er ihnen nun erwiesen.


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