© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

Nach dem Brandbrief
Integration I: Der Streit um die Zustände an der Rütli-Schule hält die Politiker auf Trab / Parteien streiten im Bundestag über den Weg aus der Misere
Peter Freitag

Der öffentlichkeitswirksame Brandbrief des Lehrerkollegiums der Berliner Rütli-Hauptschule hat auf Initiative der FDP-Fraktion den Bundestag beschäftigt. Am Mittwoch vergangener Woche debattierten die Parlamentarier in einer aktuellen Stunde über Fragen der Integration hier lebender Ausländer und der Bildungspolitik.

Der liberale Fraktionsvorsitzende Wolfgang Gerhardt stellte fest, das "Erlernen der deutschen Sprache" sei eine unabdingbare Vorraussetzung, die die Einwanderer und ihre Nachfahren erfüllen müßten, um sich integrieren zu können. Es müsse eine "exakte Prüfung erfolgen" und eine Einschulung könne nur erfolgen, "wenn die deutsche Sprache einigermaßen beherrscht wird", sagte Gerhardt, der außerdem forderte, "ernsthaft über Integrationspolitik zu sprechen und uns nicht mehr aufgrund der alten Political Correctness zu scheuen, offen zu sagen, was die Anforderungen eines freiheitlichen Staatswesens an diejenigen sind, die zu uns kommen, und was hier getan werden muß".

Die Forderung nach Sprachtests vor der Einschulung unterstützte auch die Staatsministerin für Integration im Kanzleramt, Maria Böhmer (CDU). Verständigungsprobleme gebe es jedoch auch gerade mit den Eltern, die ebenfalls über unzureichende Sprachkenntnisse verfügten; dies müsse durch "Elternkurse" und "Sprachangebote, ganz gezielt für Mütter" behoben werden. Die Rütli-Schule ist laut Böhmer ein Sonder-, aber kein Einzelfall. Die Defizite bezüglich Integration und schulischer Situation von Einwandererkindern belegte sie anhand zweier statistischer Beispiele: Jeder fünfte Schüler aus einer Einwandererfamilie bleibe ohne Schulabschluß; bei Türken sei es sogar ein Drittel der Schüler. Für die konkreten Mißstände an besagter Hauptschule machte Böhmer den rot-roten Senat verantwortlich, für allgemeine politische Versäumnisse bei der Integration wies sie der rot-grünen Vorgängerregierung eine Mitschuld zu. Böhmer wies Tendenzen zurück, die Hauptschule grundsätzlich abzuschreiben. Nötig sei eine bessere "Verzahnung" von Hauptschulen und Ausbildungsbetrieben, damit den Schülern eine berufliche Perspektive geboten werden könne. Um die Chancen der Schüler mit "Migrationshintergrund" zu verbessern, habe die Bundesregierung entsprechende Vorhaben im "Ausbildungspakt" mit der Wirtschaft verankert, so die Integrationsbeauftragte. Böhmer betonte zum Schluß die Notwendigkeit eines "nationalen Aktionsplans" und stellte einen "Integrationsgipfel" in Aussicht.

Die Abgeordnete der Linkspartei Gesine Lötzsch wandte sich gegen die "Verallgemeinerung", es handle sich bei den Vorkommnissen an der Rütli-Schule allein um ein "Migrationsproblem", es sei "vielmehr ein Problem der Bildungspolitik". Die betroffene Schule stehe "für eine bildungspolitische Sackgasse und für ein bildungspolitisches Auslaufmodell (...), nämlich für das dreigliedrige Schulsystem". Nach Ansicht der Berliner Abgeordneten führe die Perspektivlosigkeit der allein durch den Besuch der Hauptschule zu "Verlierern" abgestempelten Kinder zu "Lethargie und Aggressionen". Die Linkspartei sei daher für eine integrative Schule, "die ein gemeinsames Lernen von Schülern aus unterschiedlichen sozialen und soziokulturellen Gruppen möglich macht".

Forderungen nach mehr Ganztagsschulen

Für die Sozialdemokraten sprach der Berliner Schulsenator Klaus Böger, der die gegen seine Amtsführung gerichteten Vorwürfe zurückwies. Die jetzt zutage getretenen Probleme seien "in Deutschland in über 20 Jahren entstanden", er selbst sei erst sechs Jahre im Amt. Böger forderte jedoch, "offen, kritisch und auch selbstkritisch über Wege zur Integration von Kindern von Ausländern, von Kindern, die eine nichtdeutsche Herkunftssprache sprechen, und von Kindern, deren Eltern bildungsfern oder arbeitslos sind" zu diskutieren. Der Senator wies darauf hin, daß das Land Berlin bereits einen verpflichtenden Sprachtest vor der Einschulung eingeführt habe. Er plädierte außerdem für einen weiteren vestärkten Ausbau der Ganztagsangebote, auch um "kulturelle Differenzen" zwischen den Wertvorstellungen der Elternhäuser und denen der deutschen Gesellschaft zu überwinden. Desweiteren sprach sich der Schulsenator für eine Verbesserung schulischer Disziplinarmaßnahmen aus.

Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast warf den Unionsparteien vor, sowohl bildungs- als auch integrationspolitisch für die Mißstände verantwortlich zu sein. So hätten sie den vermehrten Ausbau von Ganztagsschulen mit "guter Nachmittagsförderung" ebenso verhindert wie die erleichterte doppelte Staatsangehörigkeit. Mit beiden Maßnahmen hätten die Perspektiven der "Migranten" und ihrer Kinder in diesem Land verbessert werden können, so Künast. Den Vorschlag aus den Reihen der CDU, mehrfach gewalttätig auffällig gewordene Schüler ausländischer Herkunft abzuschieben, wies sie empört zurück: Es sei "ein deutsches Problem, das Sie nicht mit Abschiebung lösen können". Der jetzigen Bundesregierung warf Künast darüber hinaus vor, notwendige finanzielle Mittel für die Integration gekürzt zu haben; das Problem lasse sich aber nur durch Investieren, nicht durch Streichungen lösen.

Foto: Schülerin mit "Migrationshintergrund": Integration soll künftig großgeschrieben werden


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