© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/06 07. April 2006

Jeder sieht das Bild, das er im Herzen trägt
Die Legende vom heiligen Pullover: Mit Erbauungsgeschichten um Rudi Dutschke will die "taz" die Moral stärken
Herbert Ammon

Die Geburt einer Religion läßt sich, in Anlehnung an Max Weber, mit dem Auftreten des charismatischen Führers bestimmen. Er gebietet vermöge außeralltäglicher Gnadengaben über Autorität, übt somit Herrschaft aus, unbeschadet der Botschaft von allgemeiner Gleichheit, Brüderlichkeit - und Herrschaftsfreiheit. Nach dem Tode des Religionsstifters beginnt das Problem: Wer bemächtigt sich des geistlichen Erbes, wie bewahrt die fromme Mär Bindekraft? Die Soziologie kennt den historischen Rhythmus: Aus den Jüngern werden Ältere (presbyteroi), aus diesen etymologisch und funktional Priester, welche die Vita des entrückten Führers sakramentalisieren und hierokratisch instrumentalisieren. Theologen gießen Worte des Meisters in dogmatische Formen, für die einfacheren Gemüter werden Reliquien und Devotionalien bereitgestellt.

Seit den lumières, dem Zeitalter der Vernunft, amüsieren uns solche Geschichten, etwa wenn die Katholiken mal wieder den Trierer Rock oder das Turiner Grabtuch hervorholen. Doch Vorsicht: Freiheit hat ihre Grenzen, die Toleranzgebote des interreligiösen Dialogs gestatten derzeit keine Witze über die Barthaare des Propheten sowie dessen multiple Ehepraxis. Und gänzlich dem Spott entzogen bleibt unsere Zivilreligion, die political correctness. Sie schöpft aus zwei Quellen: aus US-Importen und hausgemachter Geschichtsideologie.

Als besonders frommes Glaubensvolk gelten die Grünen. Über Jahre hin proklamierte ihr summepiscopus Joseph Fischer Auschwitz als neuen deutschen Gründungsmythos, alsdann die Abkehr vom Mythos des grünen Pazifismus. Was tun ohne Fischer? Wie lange zehrt der Glaube vom Charme Claudia Roths, wenn "der Pathos" (Original-Grammatik Roth) aufgebraucht ist?

Die taz weiß Rat. Um die von Studienreform (Bachelor's und/oder Master's?), trüben Berufsperspektiven, hohen Benzinpreisen und globaler Erwärmung beunruhigte Leserschar zu belehren, zu stärken und zu erbauen, beschwört sie (im taz Journal / 1/2006) die Erinnerung an die Tage von 1968: "Dutschke und Du". Auf dem Titelbild erscheint Rudi Dutschke im Pullover, ein Geschenk seiner amerikanischen Frau Gretchen.

Dutschke verbündete sich mit Wertkonservativen

Der stellvertretende Chefredakteur Peter Unfried bekennt sich zur imitatio Rudis: "Dutschke steht für die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Für alle. Er steht für die Bereitschaft, für Veränderung zu leben und zu kämpfen. Und auch - zu sterben." Die Aufforderung zum Martyrium war einst von den Kirchenvätern bis zu den Scholastikern umstritten, gehörte ab 1792 dauerhaft zu jedem Revolutionsprogramm und wird seit der Al-Qaida-Renaissance des Religiösen wieder mit der Aussicht auf paradiesische Freuden verknüpft.

Ende der 1970er Jahre gehörte Dutschke zu den Mitgründern der Grünen. Der Charismatiker meldete "sagen wir ruhig, seinen Führungsanspruch" (Christian Semler) an. Vom Marxismus hatte Dutschke sich verabschiedet, die ideologisch fixierten K-Gruppen wollte er draußen halten. Er verbündete sich mit Wertkonservativen wie Herbert Gruhl - eine nicht nur taktische Wendung, wie Semler einräumt.

Semler, der 1957 als "Traditionalist", d.h. als orthodoxer Parteigänger der verbotenen KPD zum SDS stieß, stellt Dutschke als "menschenfreundlichen Linksradikalen" vor. "Er war und wirkte authentisch", weshalb seine Zuhörer "fühlten, daß er es ehrlich meinte". So einfach läßt sich Charisma definieren.

Anders als der christliche Utopist Dutschke, der "an die Entwicklungspotentiale jedes einzelnen Menschen geglaubt" habe, war der aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Semler ein strammer Klassentheoretiker, "ein abgefuckter Typ, der an die Konditionierung der Leute durch die Klassenlage" glaubte - und auch wieder nicht. Dank seiner von ironischer Vergeblichkeit geprägten "Sozialisation bei der Münchner Linken" sah er in der Bundesrepublik nur den unverbesserlichen Nazihort. "Bei Dutschke sind es die Volksmassen, bei den Dogmatikern wie mir sind es die Arbeiterklassen." Semler lobt Dutschke für dessen Sensorium für die nationale Frage, was ihn "von der großen Mehrheit der radikalen Linken" unterschied.

Einzufügen ist, was Dutschke anno 1969 an Bernd Rabehl schrieb: "So wie Versailles, so waren Teheran und Potsdam nichts anderes als kapitalistisch-revisionistische Machtentscheidungen. Warum wurden bis heute von den deutschen Revolutionären diese Unterdrückungsergebnisse liegengelassen, seit Jahrzehnten konterrevolutionären Parteien und Personen überlassen." Er beeilte sich hinzuzufügen, daß es ihm "hier nicht um nationale 'Gefühle'" gehe, sondern "allein um die Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten der vollen Analyse dessen, was ein revolutionär-sozialistisch-antiautoritäres Programm auszeichnen muß". Doch wie heißt es bei Max Weber? "Ein jeder sieht das Bild, das er im Herzen trägt."

Die Lehren der 68er-Revolutionäre blieben von den Massen und Klassen unverstanden, was nicht allein deren Bewußtseinsverflachung im damaligen Konsumkapitalismus (Vollbeschäftigung, 40-Stunden-Woche, Costa Brava) anzulasten war. Eine Kostprobe jener Theorie ohne Syntax bietet der Alt-Linke Oskar Negt: "Im Symbolbegriff 'proletarische Öffentlichkeit' suchten wir jene Eigenschaften der Menschen und konkreten Produktionsprozesse zu bezeichnen, die in den bestehenden Herrschaftssysteme eingebunden, blockiert sind, in sich jedoch auch Befreiungs- und Selbstverwirklichungspotentiale, die des öffentlichen gesellschaftlichen Ausdrucks bedürfen, um ihre eigentümliche politische Kraft zu entfalten." Auch Dutschke bevorzugte während der Studentenrevolte solche Prosa, entfachte indes dank seiner rhetorischen Begabung mehr Begeisterung.

Wie hielt es der Revolutionär Dutschke mit der Gewalt? Ungeachtet aller Identifikation mit den "Verdammten dieser Erde" in der "Dritten Welt" habe er, so Semler, die von Frantz Fanon gepriesene Idee befreiender Gewalt um ihrer selbst willen abgelehnt. Zu Recht deutet er Dutschkes Rede und Geste ("Holger, der Kampf geht weiter!") bei der Beerdigung des RAF-Genossen Holger Meins als "eine große herzliche Geste" an den früheren Weggefährten.

Mit einer Bombe im Gepäck nach Frankfurt

Aus der Feder von Walter Jens gerät der Lobpreis Dutschkes als eines "friedliebenden, zutiefst jesuanischen Menschen" zur protestantischen Selbstparodie. Jens ruft nach einer "Gegenströmung in diesen Zeiten eines zutiefst aggressiven Amerika ... Es glaubt doch wohl niemand, daß Jesus auf die Frage 'Sollen wir die Atombombe werfen?' mit Ja geantwortet hätte." Das iranische Atomprogramm wird in dieser Fragestellung ausgeklammert.

Bahman Nirumand, Gegner des Schah-Regimes und Dutschkes Mitstreiter gegen den US-Imperialismus, erinnert an eine Episode im Februar 1968. Mit einer - vom V-Mann Urbach bereitgestellten - Bombe im Gepäck flogen sie nach Frankfurt. Der geplante Anschlag auf einen amerikanischen Sendemast bei Saarbrücken blieb unausgeführt, teils aus technischer Unkenntnis, teils aus moralischen Bedenken. Für Klaus Theweleit ist die von Wolfgang Kraushaar und Jan Philipp Reemtsma verbreitete These, Dutschke gehöre zu den Wegbereitern des RAF-Terrors, eine "glatte Frechheit" und "Gemeinheit". Der taz-Autor Stefan Reinecke löst die Gewaltfrage für die "libertäre Postlinke, die Dutschke für sich reklamiert", auf salomonische Weise: "Noch wo Dutschke der Gewaltaffirmation nahekommt, hat sein Denken nichts von Carl Schmitt, nichts von der Veredlung der Gewalt zum Prinzip des Politischen schlechthin." Dem Dutschke-Exegeten ist die vertiefende Lektüre Carl Schmitts zu empfehlen.

Gretchen Dutschke, einst Theologin, jetzt Ernährungswissenschaftlerin, lebt längst wieder in den USA und macht heute Friedensarbeit, um den "Neocons und Bushies" das Handwerk zu legen. Sie findet es "ermutigend, daß in Deutschland die Menschen, auch gegen den Druck der Bush-Regierung, ihre neue (erst 1968 begründete) demokratische Tradition aufrechterhalten und sich nicht am sinnlosen Krieg im Irak beteiligten". Für grün-rote Wahlmanöver ist in solcher Analyse kein Platz. "Es gab auch damals Globalisierung, nur hieß das noch nicht so. Es gab auch damals eine US-Macht, die versuchte, ihre Kontrolle über andere Nationen zu erweitern." Gretchen steht dem geistigen Horizont der "Bushies" näher, als ihr scheinen mag.

Der Leser möchte das Heft längst vorher beiseite legen. Er täte es mit dem unguten Gefühl, die zweiseitig abgedruckte Strickanleitung pietätlos zu übergehen. Das Strickmuster folgt dem Beitrag, der dem "Dutschke-Pullover", aufbewahrt im Museum für Heimatgeschichte in Luckenwalde, gewidmet ist. Darin heißt es: "Auch heute ist er noch wichtig. Dutschkes Pullover ist weiße Magie und damit das natürliche Gegenstück zum schwarzmagischen 'Speer des Bösen', den Hitler verehrte."

Foto: Rudi Dutschke bei einem "Monitor"-Interview: "Er steht für die Sehnsucht nach einem besseren Leben"


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