© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/06 31. März 2006

Die Jungen müssen sich wehren
von Michael Lennartz

Zum 22. Juni 1889 trat das Gesetz zur Alters- und Invaliditätsversicherung in Kraft. Es war das dritte Sozialversicherungsgesetz, das Reichskanzler Otto von Bismarck im Reichstag durchsetzen konnte. Es war ohne Zweifel ein großer Moment in der politischen Geschichte dieses Landes. Das noch obrigkeitsstaatlich organisierte Deutschland stellte die Weichen in Richtung Sozialstaat und soziale Absicherung und wurde zumindest in dieser Hinsicht zu einem der fortschrittlichsten Staatsgebilde der damaligen Zeit mit Vorbildfunktion bis in unsere Tage hinein. Schon damals wurde die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu je einem Drittel von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Deutschen Reich gesichert.

Am 21. Januar 1957 wurde unter Bundeskanzler Konrad Adenauer die dynamische Rentenversicherung im Bundestag verabschiedet. Der wesentliche Unterschied zur Bismarckschen Rentenversicherung war der Umstieg von der Kapitaldeckung in das Umlageverfahren (die Renten werden zu zwei Dritteln aus den aktuellen Abgaben der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert). Der Rest wird als Bundeszuschuß bezahlt. Des weiteren erfolgt die Anpassung der Renten an die wirtschaftliche Lohn- und Gehaltsentwicklung der Arbeiter und Arbeitnehmer.

Deutschland leistet sich seitdem eine Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) mit Solidaritätsprinzip, in der heute etwa zwanzig Millionen Rentner und etwas mehr als dreißig Millionen Erwerbstätige versichert und integriert sind. Das Solidaritätsprinzip sichert einen einkommensabhängigen Beitrag im Unterschied zu alters- und risikobezogenen Prämien der Privatversicherung. Die gesetzliche Rentenversicherung versucht bei drei großen Risiken eine Grundsicherung zu gewährleisten: Altersabsicherung, Hinterbliebend­7versorgung und Minderung der Erwerbsfähigkeit. Um dies zu ermöglichen, gibt es vielfältige Umverteilungsprozesse innerhalb der GRV: Erstens von Arbeitgebern und Erwerbstätigen zu Rentnern, Hinterbliebenen und Erwerbsunfähigen, zweitens von alleinstehenden Versicherten und Doppelverdienern zu Rentnern, Hinterbliebenen und Erwerbsunfähigen, drittens von jungen zu alten Versicherten und schließlich von Familien durch die Erziehung künftiger Beitragszahler zu Alleinstehenden und Doppelverdienern.

Die Beiträge für die GRV werden durch ein Umlageverfahren erhoben, die Versicherungspflicht tritt mit der Aufnahme eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ein. Die Beiträge werden in gleichen Teilen von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen. Der Beitragssatz beträgt seit 2003 19,5 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens. Die Arbeitgeber werden mit 9,75 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme für die Rentenversicherung belastet.

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Die Gewinner des jetzigen Renten-systems sind Vertreter der 68er-Generation, die - beruflich erfolgreich - nicht in ausreichendem Maße die Elternschaft für nachwachsende Beitragszahler übernommen haben.

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Bei einem Durchschnittseinkommen von 2.436 Euro in der Sozialversicherung sind dies 237,51 Euro. Die Lohnnebenkosten für ein Durchschnittseinkommen saldieren sich dabei auf 513,39 Euro (176 Euro Gesetzliche Krankenversicherung, 237,51 Euro Gesetzliche Rentenversicherung, 20,71 Euro Gesetzliche Pflegeversicherung, 79,17 Euro Arbeitslosenversicherung), so daß ein Arbeitgeber für einen Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen eine Belastung von 2.949,39 Euro pro Monat zu tragen hat. Hinzu kommen noch die Beiträge an die Berufsgenossenschaft, die von den Arbeitgebern seit 1884 zu hundert Prozent getragen werden.

Dieses System einer solidarischen Rentenversicherung droht nun in den nächsten Jahren zu kollabieren. Im wesentlichen können für diesen Kollaps sechs Gründe genannt werden:

· Die demographische Entwicklung mit einer Unterjüngung der Gesellschaft.

· Die Berechnung der Rente nach Einkommen ohne angemessene Berücksichtigung der Erziehungsleistung.

· Die dadurch steigende Zahl an Alleinstehenden und Doppelverdienern.

· Die durch den Arbeitgeber-Beitrag den Beitragssatz hochtreibenden Kosten.

· Die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes mit immer weniger sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.

· Die steigenden Insolvenzzahlen.

· Das sich permanent verschlechternde Verhältnis von eingezahltem Beitrag, zu erwartender Rente und deren zu erwartender Kaufkraft in der Zukunft.

Das Ergebnis dieser Entwicklung sind stetig steigende Beitragssätze, die als Lohnnebenkosten den Faktor Arbeit in Deutschland verteuern und damit die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft negativ beeinflussen. Der Gesetzgeber hat bislang vergeblich versucht, den Trend der steigenden Beitragssätze dauerhaft zu stoppen. 2003 haben laut Statistischem Bundesamt 39.320 Betriebe Konkurs angemeldet und 15.000 Selbständige ihre Selbständigkeit aufgegeben, also 54.320 unternehmerische Insolvenzen. Prolongiert man die vorhandene Ausgabenentwicklung, so ergibt sich für das Jahr 2035 ein Beitragssatz für die GRV von 23,4 Prozent und für 2056 ein Maximum von 24,22 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens. Zusammen mit den anderen Abgaben für die Sozialversicherung müßten dann zwei Drittel des Bruttoeinkommens für Sozialabgaben aufgewendet werden.

Das Problem eines umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems (in dem nach spätestens sechzig Beitragsmonaten entsprechende Leistungsansprüche erworben werden) ist, daß viel zu wenigen Nettozahlern eine immer größer werdende Schar von Nettoleistungsempfängern gegenübersteht. Da beim Umlageverfahren die laufenden Ausgaben aus den aktuellen Einnahmen gedeckt werden, wirken sich Veränderungen auf der Einnahme- oder Ausgabenseite relativ schnell dramatisch aus. Deutlich wird dies in der Generationenbilanz. Die Generationenkonten weisen nur für die Zehn- bis Vierzigjährigen Nettozahlungen aus, alle anderen, jüngere und ältere, erhalten mehr an Leistungen von der GRV, als sie einzahlen. Insbesondere die 45- bis 100jährigen sind die Nutznießer des jetzigen Systems. Hinzu kommt, daß für einen durchschnittlicher Arbeitnehmers mit 2.436 Euro Bruttomonatseinkommen statt bisher 475,02 Euro Beitrag (19,5 Prozent Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil) im Jahr 2035 von dann 4.032 Euro Bruttoverdienst 943,49 Beitrag (23,4 Prozent Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil) zu zahlen sind. Geht man von einem Renteneintritt in diesem Jahr aus und bereinigt das letzte Arbeitseinkommen im Jahr 2035 um die gesetzlichen Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung um einen Wert von nur ein Prozent Inflation über dreißig Jahre, so hat ein 2005 erworbener Entgeltpunkt (Jahresverdienst eines Versicherten 29.569 Euro geteilt durch Durchschnittsverdienst aller Versicherten 29.569 Euro ist gleich einem Entgeltpunkt was gleich von derzeit 26,13 Euro West). Aus einem maximalen Rentenanspruch wird ein durchschnittlicher Rentenanspruch und aus einem durchschnittlichen durch eine zu veranschlagende Steuerbelastung sogar ein Armutsrentenanspruch. Denn Entgeltpunktverbesserungen und Rentensteigerungen sind nicht mehr zu bezahlen oder würden den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung und damit die Staatsverschuldung erhöhen.

Zudem sinkt das Rentenniveau des Eckrentners mit 45 Beitragsjahren von heute 45 Prozent auf 40 Prozent des letzten Bruttoeinkommens, in unserem Fall auf 1.612.80 Euro. Weitere Rentenniveausenkungen auf bis 25 Prozent werden zwar heute noch heftig dementiert, sind aber 2035 aufgrund der geringen Geburtenrate und zwei Altersversorgungsansprüchen der Eltern durchaus im Bereich des Möglichen.

Die Gewinner des jetzigen Systems sind die zwischen 1938 und 1948 Geborenen (68er-Generation), die 40 bis 45 Jahre bestenfalls noch als Führungskräfte in Deutschland Höchstbeiträge in das jetzige System eingezahlt haben. Diese über der Beitragsbemessungsgrenze (1958: 750 Mark) Verdienenden in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren sind es jedoch gerade häufig, die nicht in ausreichendem Maße die Elternschaft für die nachwachsenden Beitragszahler übernommen haben und somit praktisch die "Eltern des demographische Problems" wurden und damit massiv zur Kündigung des Generationenvertrages beitrugen. Diese nun seit 2000 in Vorruhestand und reguläre Altersruhe gehende Generation hat mit bezahlbaren Beiträgen relativ viel Rente erwirtschaftet.

In Zukunft gibt es nur jedoch nur noch exorbitante Beitragssteigerungen bei gleichzeitig sinkender Rente. In der aktuellen politischen Diskussion über die demographische Katastrophe hört man dann auch verdächtig wenig Vorschläge von Vertretern dieser Nutznießergeneration, welche Verantwortung man dafür tragen will. Eine Übergabe von dieser Generation an die nächste findet nicht statt. Unterstützt wird diese starke Wählerschicht dabei nahezu von allen Parteien. CDU-Funktionäre auf allen Ebenen stehen mit ihrer Politik für die über Sechzigjährigen mit Sozialdemokraten oder dem VdK-Verbandsfunktionär Walter Hirrlinger im Wettstreit um den Titel "Bester Schutzpatron der Verursacher des demographischen Problems".

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Die Vorruhestandsregelungen müßten zum nächstmöglichen Termin ersatzlos gestrichen werden, jeder Renteneinstieg vor dem 65. Lebensjahr mit noch drakonischeren Kürzungen unattraktiv gemacht werden.

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Berücksichtigt man die demographische Schieflage dieses Landes (immer weniger jungen oder im mittleren Alter befindlichen Erwerbstätigen steht ein rapide wachsender "Rentnerberg" entgegen: 1995 waren es noch 19,1 Millionen Menschen über sechzig Jahre, 2010 werden es 21 Millionen und 2030 sogar 27,2 Millionen sein), so wird deutlich, daß dieses System kollabieren muß - egal, welche Sparmaßnahmen man einführt. Hätten wir den langjährigen Arbeitsminister im Kabinett Kohl, Norbert Blüm, nur ausreden lassen. Er wollte uns schon damals sagen: "Die Rente ist sicher ... nicht zu bezahlen."

Im Moment führt in der Politik der Blinde den Lahmen. Der Blinde sagt, wo es langgeht, der Lahme bestimmt das Tempo der kollektiven Geisterfahrt. Weshalb die große Koalition an einem System festhält, das immer mehr Geld kostet, um immer weniger zu leisten, ist immer weniger nachvollziehbar. Um den definitiven Kollaps der Rentenversicherung zu vermeiden, ist es erforderlich, die Finanzierung vom Umlageverfahren bis 1. Januar 2010 auf ein Kapitaldeckungs- und Anwartschaftsdeckungsverfahren umzustellen. Beim Anwartschaftsdeckungsverfahren finanziert der Versicherte durch Rückstellungen in jungen Jahren die alterungsbedingten Kostensteigerungen vor, das heißt, jeder baut im Laufe seines Arbeitslebens den Kapitalstock auf, aus dem er im Alter seine Versorgung bezieht. So wäre es denkbar, daß für alle nach dem 1. Januar 1961 Geborenen ein Zugangsstopp für die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt wird. Diese Personengruppe hat die Pflicht, sich in einer kapitalgedeckten Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung abzusichern. Der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung entfällt. Es werden aber die Möglichkeiten der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) ausgebaut, in der sich Arbeitgeber gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der Absicherung ihrer Mitarbeiter beteiligen können, zum Beispiel durch eine rein durch den Arbeitgeber finanzierte betriebliche Altersversorgung. Die Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit der Beiträge zur bAV durch Entgeltumwandlung bleibt auch ab 2009 erhalten.

Für jeden bisher in die Rentenversicherung eingezahlten Euro werden die Leistungen weiterhin erbracht. Aus oder neben ihrer kapitalgedeckten Absicherung zahlen die Jüngeren einen Beitrag an die gesetzliche Rentenversicherung, ohne eine Leistungsanspruch zu erlangen. Dies ist möglich weil kapitalgedeckte Absicherung nur die Hälfte des Umlagesystems benötigt. Für diese Last wird eine steuerliche Absetzbarkeit geschaffen. Für die vor 1961 geborenen Rentenversicherten werden die Beiträge nach dem allgemeinen Beitragssatz der Rentenversicherung ermittelt. Des weiteren ist für diese Jahrgänge der Ausbau der jetzigen Regelungen zur Engeltumwandlung von Gehalt- und Lohnanteil in Versicherungsleistung notwendig. Dies gilt auch für Entgeltumwandlung für die Kranken- und Pflegeversicherung. Zum Beispiel gehört die Zwölf-Jahres-Novationsfrist ersatzlos abgeschafft.

Die Vorruhestandsregelungen müßten zudem zum nächstmöglichen Termin ersatzlos gestrichen werden, jeder Renteneinstieg vor dem 65. Lebensjahr mit noch drakonischeren Kürzungen unattraktiv gemacht werden. Für die Erziehungsleistung ihres Kindes erhalten Mutter oder Vater 600 Euro pro Monat und Kind bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres des Kindes. Jedes Jahr erfolgt eine Anpassung in Höhe von drei Prozent. Kindergeld und Erziehungsgeld fallen hierfür weg. Nichterwerbstätige Mütter erhalten die Möglichkeit sich in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung als freiwillig Versicherte gegen Eigenbeitrag zu versichern.

Damit das entstandene demographische Ungleichgewicht zwischen den Generationen annähernd aufgefangen werden kann, müßte ein Familienwahlrecht eingeführt werden. Erziehende Eltern dürften dann für jedes ihrer minderjährigen Kinder einen zusätzlichen Stimmzettel ausfüllen, um das politische Gewicht zuungunsten des "Rentnerbergs" zu verschieben. Die Eltern müßten sich nur einigen, wer zum Beispiel in der ersten Hälfte der Zeit bis zur Volljährigkeit des Kindes die Stimme abgibt und wer in der weiteren Zeit bis zur Volljährigkeit. Bei Einführung dieser Maßnahmen würden die Leitungsträger kommender Generationen nicht weiter gegenüber den Nutznießern des gegenwärtigen Systems politisch benachteiligt. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft und Zukunftsfähigkeit von uns allen und den uns nachfolgenden Generationen.

 

Michael Lennartz, geboren 1965, ist seit 2001 als Versicherungsfachmann (BWV) tätig.


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