© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/06 24. März 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Europa ohne Grenzen?
Andreas Mölzer

Das Europaparlament hat die EU-Kommission aufgefordert, bis Jahresende "den Charakter der Europäischen Union" einschließlich ihrer geographischen Grenzen festzulegen. Außerdem könne die EU aufgrund der Sackgasse, in der sich der Ratifizierungsprozeß der Verfassung befindet, ihre Aufnahmekapazitäten nicht erhöhen. Erwartungsgemäß zeigten die Erweiterungsphantasten ob dieser klaren Aussagen wenig Verständnis. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn kritisierte, die Festlegung geographischer Grenzen sei "keine gute Idee", denn so würde "die Tür für immer verschlossen" werden. Offenbar macht sich der 43jährige finnische Liberale Sorgen um sein Ressort, denn ohne Erweiterungen wäre er ja arbeitslos.

Der vorherrschende Erweiterungswahn läßt allerdings befürchten, daß sich die Polit-Nomenklatura bei der Festlegung der EU-Grenzen nicht von kulturhistorischen Merkmalen wird leiten lassen. Denn derzeit wird in Straßburg bereits ernsthaft darüber nachgedacht, auch Kasachstan als "europäisches" Land anzusehen. Daß die Ex-Sowjetrepublik eine zentralasiatische Entwicklungsdiktatur ist und die "europäischen Werte" mit Füßen tritt, spielt keine Rolle.

Wenn nicht ausdrücklich festgehalten wird, daß die EU-Grenzen mit den kulturhistorischen Grenzen Europas - also jenen des christlichen Abendlandes - übereinstimmen müssen, dann ist eine Überdehnung der EU die unvermeidbare Folge. Denn dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Israel, die südlichen Mittelmeeranrainer oder zentralasiatische Staaten EU-Beitrittsanträge stellen. Und mit welchen Argumenten sollte ihnen Brüssel die Aufnahme verwehren, wenn diese versprechen, die "europäischen Werte" zu achten? Beispielsweise wäre eine nochmalige Ablehnung eines allfälligen Beitrittsansuchens Marokkos mit dem Hinweis, es sei kein europäisches Land (wie 1987 geschehen), wohl nicht mehr möglich.

Die Geschichte zeigt, wohin Überdehnung führt. Das antike Römische Reich wurde wegen des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Rom und Byzanz in zwei Hälften geteilt. Westrom zerfiel im Sturm der Völkerwanderung, während Ostrom nach den arabischen Eroberungen zunächst seinen spätantiken Charakter einbüßte, um dann 1453 endgültig den osmanischen Eroberungsgelüsten zum Opfer zu fallen. Die Sowjetunion konnte nur durch eine menschenverachtende Diktatur zusammenhalten werden. Mit der Ideologie des Kommunismus sollte den einzelnen Völkern das Nationalbewußtsein ausgetrieben werden, was aber letztendlich nur zur inneren Erstarrung des Sowjetreiches führte. Als dann ab 1985 unter Michail Gorbatschow der Druck der Diktatur nachließ, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Ruf nach Freiheit und Unabhängigkeit unüberhörbar wurde.

Ohne sich ihrer geistig-kulturellen Identität und damit auch ihrer Grenzen bewußt zu sein, scheint die EU unserer Tage dem sowjetischen Beispiel folgend in die Überdehnungsfalle zu tappen. Die Entscheidungsgewalt soll immer mehr von den Mitgliedstaaten als den Trägern historisch gewachsener Identitäten auf die Brüsseler Zentrale verlagert werden. Und diese fühlt sich nicht der kulturellen Vielfalt verantwortlich, sondern der Ideologie der Grenzenlosigkeit - nach innen wie auch nach außen.


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