© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/06 24. März 2006

Die Gunst der Stunde genutzt
Gedenkpolitik: Wohlorganisiert machen in Berlin ehemalige Kader der DDR-Staatssicherheit Front gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit
Dirk Jungnickel

Wenn eine Dame aus dem Publikum eine Kommunismusdefinition aus dem Lexikon verliest und damit den kommunistischen Terror ad absurdum führen will, dann wähnt man sich in Zeiten vor dem Erscheinen von Stéphane Courtois' "Schwarzbuch des Kommunismus" zurückversetzt, in Zeiten auch, zu denen westeuropäische Linke noch Stalin und dem kambodschanischen Diktator Pol Pot huldigten. Wenn Kader der Staatssicherheit der ehemaligen DDR allerdings in massiver Formation auftreten und mit Chuzpe ihre Untaten leugnen, dann landet man unversehens in der Gegenwart, sprich: in der ehemaligen und offensichtlich immer noch bestehenden Stasi-Hochburg Berlin-Hohenschönhausen.

Am Dienstag vergangener Woche hatten der Berliner Kultursenator Thomas Flierl und die Lichtenberger Bürgermeisterin Christina Emmrich (beide Linkspartei) zu einer Podiumsdiskussion geladen. Ursprünglich sollte es um Informationstafeln zur Markierung des ehemaligen Sperrgebietes um das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gehen, das heute eine Gedenkstätte beherbergt. Die Linkspartei sträubt sich gegen die Schilder, da auf ihnen der Begriff "kommunistischen Diktatur" auftauchen soll (JF 12/06).

Der Versammlungssaal war schon eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn gefüllt, später mußten sich mindestens 50 der rund 350 Zuhörern mit Stehplätzen begnügen. War der arglose Beobachter anfangs noch verwundert ob des regen Zuspruches, wurde er schlagartig aufgeklärt, als der Direktor der Gedenkstätte, Hubertus Knabe, auf den Stasi-Terror und die Leiden der Opfer einging. Mit Protestgejohle und "Lügen"- Zwischenrufen quittierte ein Großteil der Anwesenden seine Ausführungen.

Verharmlosung des Stasi-Terrors

Gekommen - oder geladen - waren vorwiegend die Täter. Gesichtet wurden der Stellvertreter des ehemaligen Stasi-Chefs Erich Mielke, Werner Großmann, der letzte Stasi-Chef Wolfgang Schwanitz sowie der ehemalige Haftanstaltsleiter Siegfried Rataizik. Offensichtlich hatten die Stasi-Veteranen - gut vernetzt über ihre "Opfer"-Vereine - ihre Gefolgschaft massenweise mobilisiert.

Und sie nutzten ihre Stunde. Ein ehemaliger Hauptabteilungsleiter der Stasi nannte die Gedenkstätte ein Gruselkabinett. In ein solches fühlte man sich an diesem Abend in der Tat hineinversetzt. Als Akteure fungierten wie seinerzeit die Täter sowie ihre Claqueure von der Linkspartei. Das reichte von Verharmlosung des Stasi-Terrors bis zur Beschimpfung der Opfer.

Gegenstimmen oder "Stasi raus"-Rufe waren Fehlanzeige. Dennoch bewahrten Hubertus Knabe und die Moderatorin der Veranstaltung, Gabriele Camphausen, bewunderswert Contenance. Den wenigen anwesenden ehemaligen Gefängnisinsassen mag die Galle hochgekommen sein. Es verwundert nicht, daß sie schwiegen. Sie wären gnadenlos niedergebuht worden.

Handelte es sich bei den Ausführungen der Stasi-Veteranen um eine Herabwürdigung der Opfer oder gar um Volksverhetzung? Mitnichten. Die Tatbestände des nicht unumstrittenen Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches decken die Verhöhnung der Opfer und Geschichtsklitterung der jüngsten Vergangenheit nicht ab. Jeder Richter dürfte dies unter Meinungsbekundung verbuchen.

Aber im Berliner Blätterwald rauscht es mittlerweile dennoch beträchtlich. Die Kommentatoren der Zeitungen stellen zwar das nicht vorhandene Unrechtsbewußtsein der Stasi-Offiziere und deren Unverfrorenheit heraus, schießen sich aber im wesentlichen auf Kultursenator Flierl ein, der wieder einmal unter Druck von CDU und FDP gerät, weil er - wie auch Hubertus Knabe zu Recht beklagt - nicht gegen Haßtiraden und Geschichtsleugnung deutlich Position bezogen habe. Flierl sei im Grunde ein Totalausfall, kritisierte FDP-Fraktionschef Lindner in der B. Z.

In der Tat gab er sich neutral, wo er als Einladender hätte gegensteuern müssen. Man habe den Stasi-Mitarbeitern heftig widersprochen, schrieb er im nachhinein an Knabe. Die Aufzeichnung der Veranstaltung belegt das Gegenteil: Reichlich verquast hatte er von sich gegeben, daß auch die ehemaligen Mitarbeiter der Stasi Bürger dieses Landes und Teile der Öffentlichkeit seien, denen er durchaus ein Recht einzuräumen habe, an der Debatte teilzunehmen. Sie seien allerdings nur ein Teil der Perspektive. Glücklicherweise hatte Knabe einen Zeitzeugenbericht zur Hand, in dem der Aufenthalt in einer Wasserzelle dokumentiert wird. Diese erschütternden Fakten ließen den Saal verstummen, für einem Moment zumindest.

Kritik an Kultursenator Flierl

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hat inzwischen angemerkt, daß Verfälschungen und Verharmlosungen der DDR- Vergangenheit scharf zurückgewiesen werden müßten. Niemand stellte bisher allerdings die Frage, ob man es Flierl und der Bezirksbürgermeisterin überhaupt zumuten kann, ihre Wählerschaft zu brüskieren. Mittlerweile haben mehrere Opferverbände des SED-Regimes den Rücktritt des Senators gefordert, der nun erstmals Fehler eingeräumt hat.


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