© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

Unschuldig vogelfrei
Deutschlands moralischster aller Lockenköpfe, Roger Willemsen, interviewt ehemalige Häftlinge des US-Gefangenenlagers Guantánamo
Werner Olles

Guantánamo und kein Ende. Der US-Stützpunkt auf Kuba ist längst nicht mehr nur Fidel Castro ein Dorn im Auge. Seit die Bush-Regierung dort ein völkerrechtlich exterritoriales Gefangenenlager betreibt, in dem sie - eigenen Angaben zufolge - "illegale Kombattanten", die eine eminente Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellen, unter strengstem Verschluß hält, befragt und dabei wohl auch Verhörtechniken aussetzt, die zumindest in der westlichen Welt als physische oder psychische Folter gelten, reißt die internationale Kritik an dem Lager nicht ab.

Nun hat Roger Willemsen, der seit vielen Jahren als Botschafter der Gefangenen-Hilfsorganisation Amnesty International arbeitet - hierzulande bislang aber eher als Autor, Fernsehmoderator, Dokumentarfilmer und Gutmensch von Gnaden bekannt ist -, ein Buch mit Interviews ehemaliger Guantánamo-Häftlinge vorgelegt. Zwei Russen, ein Jordanier, ein Palästinenser und ein Afghane - über ihre Festnahme und ihre Behandlung durch das US-Militär in Guantánamo berichten. Freimütig geben die Männer auch Auskunft darüber, welche Auswirkungen die Haft auf sie selbst, ihre Familien und auf ihr weiteres Leben hatte und naturgemäß immer noch hat.

Was sie zu sagen haben, ist in der Tat erschreckend und enthüllt nicht nur eine Institution außerhalb des Völkerrechts, sondern läßt uns auch auf ein Zeitalter blicken, in dem der aus dem Mittelalter stammende Begriff der Vogelfreiheit völlig neu interpretiert werden muß.

So berichtet der Jordanier Khalid Mahmoud al-Asmar, ein Gewürzhändler, wie er durch ein Bombardement in die Hände der Taliban geriet, die ihn einsperrten, bis ihn schließlich die Amerikaner festnahmen, weil er angeblich Honig an die Terroristen verkauft hätte. Über mehrere Zwischenlager wurde er dann nach Guantánamo gebracht. Drei Jahre lang hielt man ihn hier fest, seine Familie erfuhr erst nach neun Monaten, wo er sich befand. Ein anderer Häftling wurde von den Pakistanis gegen ein hohes Kopfgeld an die US-Truppen verkauft. Übereinstimmend betonen die ehemaligen Häftlinge, daß sie über Monate nicht verhört worden seien und man ihnen Medikamente verabreicht habe, die Wahrnehmungsstörungen hervorriefen. Schlechte Dolmetscher erschwerten und verfälschten ihre Aussagen, und von weiblichen Wachen wurden sie zum Teil sexuell provoziert. Keiner der Männer hatte auch nur entfernt mit Terrorismus zu tun, doch in den Genuß einer Entschuldigung oder gar einer Entschädigung von seiten der US-Regierung für die erlittene Haft - ganz zu schweigen von einer offiziellen Rehabilitation - ist keiner von ihnen gekommen.

Tatsächlich konnte keinem einzigen der bisher etwa zweihundert Freigelassenen - etwa fünfhundert Häftlinge sind derzeit immer noch inhaftiert - eine Verbindung zu den Drahtziehern des 11. September 2001 nachgewiesen werden. Dafür berichten die von Willemsen interviewten Männer über die Bedingungen ihrer Haft (Schlafentzug, Drohungen, Schläge, Schändungen des Koran etc.), über Besuche ausgewählter Journalisten, die nur zu sehen bekamen, was sie sehen sollten, über die Zerstörung ihrer Familien, über die Aussichtslosigkeit, jemals rehabilitiert zu werden, und über die schriftliche Verpflichtung, nach ihrer Entlassung über alles zu schweigen, was sie in Guantánamo erlebten. Den bewußten Bruch dieser Verpflichtung verstehen sie daher auch als den behutsamen Versuch eines ersten Schrittes zurück in ein "normales" Leben.

Natürlich rennt Willemsen mit diesem Buch sperrangelweit offenstehende Türen ein. Von den Vereinten Nationen bis hin zum treuesten Verbündeten der USA, Großbritannien, wird die Schließung des Gefangenenlagers gefordert. Und gewiß ist er auch nicht, wie er behauptet, der erste, der ehemalige Guantánamo-Häftlinge interviewt hat. Dennoch ist sein Buch ein wichtiges Dokument, weil es zeigt, wie eine Supermacht ohne jede Rücksicht auf geltende Verträge das Recht des Stärkeren demonstriert und mittels Willkürmaßnahmen und Kollektivstrafen das internationale Völkerrecht immer weiter aushebelt.

Roger Willemsen (Hrsg.): Hier spricht Guantánamo. Ex-Häftlinge im Interview. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2006, broschiert, 237 Seiten,, 12,90 Euro


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